Die israelische Armee wartet auf ihren Einsatz.Bild: keystone
Analyse
Die geplante Bodenoffensive im Gazastreifen lässt auf sich warten. Die möglichen Gründe für den Aufschub.
Die Sorge eines Flächenbrands in Nahost ist gross. Israels Einmarsch im Gazastreifen könnte zu einem «Völkermord beispiellosen Ausmasses führen», warnte die Arabische Liga. Massiven Druck auf Israels Kriegskabinett ausgeübt habe der «New York Times» zufolge Joe Biden.
Der US-Präsident wolle vor allem einen Zweifrontenkrieg mit der Hisbollah verhindern, da diese eine grössere Bedrohung als die Hamas darstelle. Militärisch ist die islamistisch-schiitische Terrororganisation mit angeblich 150'000 Sprengstoffraketen der Hamas weit überlegen.
Doch der Aufschub der geplanten Bodenoffensive ist wohl nicht nur militärisch begründet.
Was Israel womöglich zögern lässt:
Freilassung der Geiseln
Mit dem Abwarten gewinnt Israel Zeit für Geiselverhandlungen. Noch immer befinden sich über 200 Geiseln in der Hand der Hamas, darunter auch US-Bürger:innen. Der Bodeneinsatz dürfte die Überlebenschancen schmälern, da die Hamas die Geiseln gemäss eigenen Angaben an verschiedenen Orten versteckt hält.
Fotos von Menschen, die während des Hamas-Angriffs auf Israel entführt wurden, hängen an einer Wand in Tel Aviv, 14. Oktober 2023.Bild: keystone
Ein Mann weint vor einem Bild seiner entführten Tochter, 14. Oktober 2023.Bild: keystone
Schutz der Zivilbevölkerung
Israels Militär hat die Menschen im Gazastreifen wiederholt aufgefordert, vor der geplanten Bodenoffensive in den Süden der Region zu fliehen. Denn die Hamas-Mitglieder verschanzen sich der israelischen Armee zufolge in Schulen, Moscheen sowie in Häusern von Zivilist:innen – insbesondere in den am dichtesten besiedelten Regionen im Norden des Gazastreifens.
In Gaza Stadt liegen ganze Viertel in Trümmern. Bild: keystone
Rund eine Million der 2,3 Millionen Einwohner:innen seien der UNO zufolge von der Massenflucht betroffen. Die Evakuierung so vieler Menschen in einem von Raketenbeschuss zerstörtem Gebiet mit schlechter Infrastruktur ist eine Herausforderung, die Zeit in Anspruch nimmt.
Die Hamas habe Berichten zufolge versucht, die Evakuierung der Einwohner zu verhindern. Dennoch sind inzwischen 600'000 Menschen dem Aufruf gefolgt.
Trotzdem warnte Joe Biden nicht voreilig zu handeln, um zivile Opfer zu vermeiden. Indes fordern Hilfsorganisationen einen sicheren Korridor zum Westjordanland.
Unberechenbares Tunnelsystem
Ein Albtraum für Israels Truppen ist das hochkomplexe Tunnelsystem der Hamas. Es ist so umfangreich, dass es einer verborgenen Stadt unter Gaza gleichkommt. Teilweise befinden sich die Tunnel 40 Meter tief unter der Erde und können die Hamas-Kämpfer so vor Luftangriffen schützen. Gleichzeitig können Raketen versteckt werden.
2013: Ein Tunneleingang, der in der Nähe der Grenze zwischen Israel und dem Gazastreifen entdeckt wurde. Bild: AP/AP
Militärexperte John Spencer geht davon aus, dass die sogenannten Terrortunnel bei einer Gegenoffensive ein wichtiges Element der «Guerilla-Strategie» der Hamas sein werden. Kämpfer können sich so unter der Erde fortbewegen, plötzlich auftauchen, angreifen – und wieder im Tunnel verschwinden. Hinzu komme, dass die unterirdische Stadt mit zivilen Standorten wie Schulen, Krankenhäusern und Moscheen verbunden sei.
Blutiger Häuserkampf
Bei einer Bodenoffensive kommt es zu blutigen Häuserkämpfen, sind sich Experten einig. Sie berufen sich dabei auf die blutigen Kämpfe um Falludscha im Irakkrieg im Jahr 2004. Der Häuserkampf ist zeitintensiv und mit hohen Verlusten verbunden. Israels Verteidigungsminister Joav Galant rechnet mit monatelangen Kämpfen: «Es kann einen Monat dauern, zwei oder drei, aber am Ende wird es keine Hamas mehr geben.»
Seit Jahren schult die israelische Armee ihre Soldaten in urbaner Kriegsführung. Dennoch bleibt der Einsatz hochriskant – gerade wegen des komplexen Tunnelsystems.
Militärexperte Fabian Hinz sagt gegenüber SRF:
«Die Soldaten müssen sich ständig fragen: Ist das nun ein Zivilist oder ein Kämpfer?»
Hinzu komme, dass sehr viele Reservisten eingezogen wurden, die Berichten zufolge nicht die Ausrüstung bekommen hätten, die sie benötigen.
Angespannte Beziehungen zwischen Regierung und Militär
«Es gibt eine Vertrauenskrise zwischen Benjamin Netanyahu und der israelischen Armee», berichten israelische Medien. Die Armee beschuldige die Regierung, den Hamas-Angriff nicht vorhergesehen zu haben. Die angespannte Beziehung würde die Zusammenarbeit erschweren, schreibt Nahum Barnea, einer der bekanntesten israelischen Journalisten, in der Tageszeitung «Yedioth Ahronoth».
«Die Erwartungen sind gering, die Ängste gross.»
Nahum Barnea
Ein israelischer Soldat betet entlang der Grenze zwischen Israel und Gaza, 18. Oktober 2023.Bild: keystone
Zu Reibereien kam es bereits vor dem Hamas-Angriff, als sich israelische Verteidigungskräfte (IDF) aufgrund der umstrittenen Justizreform gegen die Regierung stellten.
Bedenken hinsichtlich einer Besetzung
Eine zentrale Frage, die sich Israel stellen muss: Was passiert, wenn die Hamas einen schweren Schlag erleidet? Wird der Gazastreifen besetzt?
Politexperten kritisieren, dass Israel noch keinen Plan für nach einer Invasion habe, und warnen vor einer erneuten Besetzung. Denn diese würde den Terrorismus weiter befeuern.