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«Ich halte Demokratie und Kapitalismus für unvereinbar»

Demonstranten reissen das Hoxha-Denkmal in Tirana, der Hauptstadt Albaniens, nieder, aufgenommen am 20. Februar 1991. (KEYSTONE/AP/ATA)

Albanien nach dem Kommunismus: Die Statue von Langzeit-Diktator Enver Hoxha wird 1991 in der Hauptstadt Tirana gestürzt.Bild: AP ATA

Interview

Wie kann man Freiheit und Demokratie unter einen Hut bringen? Diese Frage ist aktuell wie nie. Lea Ypi, Schriftstellerin und Philosophie-Professorin, gibt Antworten und erklärt, weshalb wir die Hoffnung nicht aufgeben dürfen.

Ihr Buch trägt den Titel «Frei». Normalerweise sind es Rechtspopulisten und Libertäre, die permanent nach Freiheit rufen. Zu diesen Gruppen zählen Sie eher nicht. Oder irre ich mich?
Lea Ypi: Ich bedauere sehr, dass die Rechten und Libertären diesen Begriff für sich in Anspruch nehmen. Sie benutzen ihn, um vermeintlich individuelle Freiheit gegen die Gesellschaft auszuspielen. Ich hingegen bin überzeugt, dass man Freiheit nur in Bezug auf die sozialen Begebenheiten definieren kann.

Sie benützen das Beispiel von Albanien, um die Spannung zwischen individueller Freiheit und sozialer Verantwortung zu illustrieren. Als Kind wuchsen Sie im kommunistischen Albanien auf, einer Gesellschaft, die sich mit Nordkorea vergleichen lässt. In den Neunzigerjahren kippte Albanien ins andere Extrem, in einen schrankenlosen Neoliberalismus.
Am Beispiel von Albanien in den letzten 40 Jahren kann man tatsächlich zwei extreme Versionen vom Verständnis von Freiheit studieren.

Lea Ypi

Lea Ypi ist Professorin für politische Philosophie an der London School of Economics. In ihrem autobiografischen Bestseller «Frei» schildert sie ihre Kindheit im kommunistischen Albanien.

Beide Experimente endeten in einer Katastrophe.
Richtig. Deshalb ist eine zentrale Botschaft meines Buches, dass Freiheit nicht auf eine Ideologie reduziert werden kann.

Sie machen diese Botschaft an sehr persönlichen Beispielen fest. Ihr Vater war Sozialist, Ihre Mutter Kapitalistin.
Meiner Mutter ging es mehr um die Freiheit des Individuums vom Staat. Mein Vater hatte eine sozialere Vorstellung von Freiheit.

Er wurde in den Neunzigerjahren gefeuert, weil er sich geweigert hat, Angestellte zu feuern.
Ja, und dies, obwohl er das Opfer des kommunistischen Systems war. Meine Familie war der Partei suspekt, wir galten als Dissidenten und Klassenfeinde. Mein Vater durfte deshalb nicht studieren. Nach dem Sturz des Kommunismus geriet er in einen moralischen Zwiespalt. Er war CEO des grössten Unternehmens im Hafen von Durres. Die neoliberale Logik zwang ihn, Leute zu entlassen. Das konnte er nicht mit seiner Vorstellung von Freiheit in Übereinstimmung bringen.

Sie haben eine ungewöhnliche Karriere hinter sich, die Sie von der kommunistischen Volksschule Albaniens zu einer Professorin für Philosophie an der London School of Economics (LSE) geführt hat, einer der renommiertesten Universitäten der Welt. Wie haben Sie das geschafft?
Nach der Volksschule ging ich nach Rom und wollte dort Philosophie studieren, sehr zum Ärger meiner Eltern übrigens.

Wenige Eltern brechen in Freudenstürme aus, wenn ihr Kind Philosophie studieren will.
Ja, aber in Albanien war dies besonders verpönt, weil Philosophie mit Marxismus gleichgesetzt wurde. Aber ich bekam ein Stipendium für eine Universität in Rom, danach eines für einen Postdoc in Oxford und schliesslich eine Stelle an der LSE. Da habe ich zum ersten Mal eigenes Geld verdient.

Sie bezeichnen sich heute als Marxistin, eher ungewöhnlich in Anbetracht Ihrer Herkunft. Weshalb?
Ich habe nichts dagegen, wenn man mich eine Marxistin nennt. Ich selbst sehe mich jedoch mehr als Sozialistin, denn ich halte es generell für einen Fehler, ein Denksystem mit einer einzigen Person in Verbindung zu bringen. Marx ist nur einer von vielen Denkern in der sozialistischen Tradition.

«Ich bin Sozialistin, weil ich die sozialistische Kritik am Kapitalismus teile.»

Trotzdem: Was fasziniert Sie an Marx?
Er hat die ökonomischen Zusammenhänge, die zur Unterdrückung der Menschen führen, sehr gut analysiert. Seine Erkenntnisse sind heute noch gültig. Für mich ist jedoch der Marxismus nicht über jeden Zweifel erhaben. Er ist keine Religion. Man muss permanent hinterfragen, zu was für politischen Auswüchsen er geführt hat.

Sie können also dem dogmatischen Marxismus-Leninismus, wie er einst in der Sowjetunion praktiziert wurde, nichts abgewinnen?
Ich bin Sozialistin, weil ich die sozialistische Kritik am Kapitalismus teile. Ich übersehe aber nicht, dass es im real existierenden Sozialismus – wie er einst in den kommunistischen Staaten Osteuropas praktiziert wurde – zu inakzeptablen Einschränkungen der Freiheit gekommen ist. Gleichzeitig dürfen wir jedoch auch die Auswüchse des Kapitalismus nicht unter den Teppich kehren. Wir müssen von den Fehlern beider Systeme lernen.

Es gab und gibt immer wieder Versuche, einen menschlichen Sozialismus oder einen «dritten Weg» zu verwirklichen. Bisher ist der Erfolg überschaubar geblieben. Was gibt Ihnen Hoffnung, dass es doch klappen könnte?
Hoffnung ist für mich eine Haltung, die man haben muss, um vorsätzlich handeln zu können. Und wenn ich mir die Entwicklung des Liberalismus vor Augen führe, dann habe ich ebenfalls wenig Hoffnung. Ich sehe nicht ein, weshalb wir die liberale Gesellschaft nicht genauso hart kritisieren sollten wie die sozialistische. Und auch den Liberalismus gibt es in sehr unterschiedlichen Versionen, Neoliberalismus, soziale Marktwirtschaft etc. Mir geht es darum, welche dieser Weltanschauungen eine konsistentere Kritik der Gesellschaft und eine plausiblere Konzeption des Individuums hat. Für mich besteht das Problem des Liberalismus und des Kapitalismus darin, dass sie zu stark auf den Egoismus konzentriert sind. Wir müssen den sozialen Beziehungen mehr Platz einräumen, wenn wir eine umfassendere Vorstellung von Freiheit haben wollen.

Lea Ypi hält am Donnerstag um 18.30 Uhr in der Aula der Universität Zürich einen Vortrag zum Thema «Freedom under Capitalism». Die Veranstaltung ist öffentlich und der Eintritt ist frei. Sie besucht die Schweiz auf Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung (SIAF).

Wie bringen Sie Ihr Konzept von Freiheit in Einklang mit der Demokratie und dem Rechtsstaat?
Ich habe eine sehr moralische Vorstellung von Freiheit. In meinem Buch verkörpert meine Grossmutter diese Vorstellung. Sie war der Überzeugung, dass Freiheit und soziale Verantwortung Hand in Hand gehen. Von dieser Warte aus kann man sowohl die Experimente des Sozialismus als auch des Liberalismus kritisieren, und man kann so Demokratie und Rechtsstaat anstreben, nicht nur in einem Land, sondern auf der gesamten Welt.

In der Theorie tönt das gut. In der realen Welt hingegen steuern wir derzeit auf eine Wahl hin, die lautet: Wollen wir die liberale Weltordnung des Westens verteidigen oder uns einer autokratischen Ordnung unterwerfen, wie sie in Ländern wie Russland, China oder dem Iran bereits besteht? Das ist die Botschaft, wie sie US-Präsident Joe Biden kürzlich verkündet hat. Teilen Sie diese Botschaft?
Ich weigere mich, in eine dieser beiden Schubladen gesteckt zu werden. Nicht nur die autoritäre, auch die westliche Konzeption von Freiheit hat ihre Probleme. Die Lösung liegt in der Konzeption einer Freiheit, welche die individuelle und die soziale Dimension berücksichtigt.

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Von Russen zerbombte Wohnhäuser in der Ukraine.Bild: keystone

Können wir uns das derzeit leisten? Wir haben einen Krieg in der Ukraine und nun auch noch einen im Nahen Osten. Wir müssen doch Stellung beziehen.
Ich will Stellung für die Menschlichkeit beziehen. Ich kann dem autoritären Standpunkt nicht zustimmen, aber auch die Weltsicht eines Joe Biden entspricht mir nicht. Das ist eine Sicht, die einzig den reichen und privilegierten Ländern zugutekommt. Deshalb schlagen sich auch so viele Länder des Globalen Südens auf die Seite von Russland und China. Wir müssen die Begrenzung von beiden Systemen, der liberalen und der autoritären Weltordnung, überwinden.

Nochmals: Haben wir diese Wahl derzeit wirklich? Sogar die Schweiz, ein Land, in dem die Neutralität eine heilige Kuh ist, beginnt, darüber zu diskutieren.
Politiker müssen Entscheidungen fällen. Doch kritische Bürgerinnen und Intellektuelle sollten sich die Freiheit bewahren, beide Seiten kritisieren zu dürfen. Wir sollten auf keinen Fall dogmatisch werden, und wir können die Zukunft nicht voraussehen.

Aber wir können aus der Geschichte lernen. Putins Überfall auf die Ukraine beispielsweise hat sehr viele Parallelen mit Hitlers Überfall auf Polen. Und wir wissen, was geschehen ist, weil niemand Hitler gestoppt hat.
Warum haben wir Putin nicht schon lange gestoppt? Weil wir daran interessiert waren, mit ihm Geschäfte zu machen. Diese aus kurzfristigen Interessen getätigten Geschäfte holen uns nun ein. Daher müssen wir die Fähigkeit entwickeln, langfristig zu denken. Ansonsten wiederholt sich die Geschichte tatsächlich immer wieder. Weder Putin noch Hitler sind aus dem Nichts entstanden.

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Hat auf «Wandel durch Handel» gesetzt: Angela Merkel.Bild: keystone

Es waren nicht nur die kurzfristigen Geschäfte. Es gab den Glauben, man könnte damit Russland mit dem Westen aussöhnen. «Wandel durch Handel» lautete die Zauberformel.
Diese Wandel-durch-Handel-Formel ist doch naiv. Sie geht davon aus, dass der freie Markt zu mehr Gerechtigkeit führen wird – und genau das geschieht nicht. Das haben wir immer und immer wieder erlebt, und das ist auch der Grund, weshalb die autoritären Führer an die Macht kommen.

War die Arroganz des westlichen Neoliberalismus somit die Wurzel des aktuellen Autoritarismus?
Nach dem Kalten Krieg hatte der Westen das Gefühl, sein Gesellschaftsmodell sei das einzig wahre und es gehe bloss noch darum, dieses Modell auf der ganzen Welt zu verwirklichen. Es gab keinen dritten Weg mehr. Man räumte den Schwellenländern keine Möglichkeit mehr ein, ihr eigenes Modell zu entwickeln.

Die Demokratie steht heute in der Kritik. Sie sei zu schwerfällig und zu ineffizient geworden, heisst es etwa, deshalb versage sie beispielsweise im Kampf gegen die Klimaerwärmung. Was halten Sie von dieser Kritik?
Nicht viel. Ich finde die Gefahr, dass wir wegen einer solchen Kritik in einen Autoritarismus abgleiten, grösser als die Gefahren der Klimaerwärmung. Natürlich müssen wir die Klimaerwärmung thematisieren, doch wir sollten deswegen nicht in eine Endzeit-Panik verfallen. Wir sollten keineswegs die Demokratie gegen die Klimaerwärmung ausspielen. Ich halte hingegen Demokratie und Kapitalismus für unvereinbar. Aus dieser Ecke droht die wahre Gefahr für die Demokratie.

«Die These von den zu dummen Wählern ist eine aristokratische Überheblichkeit.»

Was antworten Sie den Demokratie-Kritikern, die sagen: Die meisten Menschen sind zu dumm für die Demokratie?
Das ist ein elitäres Argument, das die Feinde der Demokratie schon immer vorgebracht haben. Sich Sorgen um die Freiheit und die Demokratie zu machen, ist kein Privileg von intelligenten und gut ausgebildeten Menschen. Ich denke, dass es einen moralischen Instinkt gibt, der allen Menschen innewohnt, egal wo sie auf der Welt zu Hause sind. Die These von den zu dummen Wählern ist eine aristokratische Überheblichkeit, wie sie Friedrich Nietzsche vertreten hat.

Man kann es aber auch übertreiben. In Zürich beispielsweise haben wir bereits dreimal über ein Fussballstadium abgestimmt – und es wird immer noch nicht gebaut.
Ein System, das den Menschen so viel Macht gibt, ist langfristig sehr robust. Das mag ineffizient sein, doch ich mag den Geist dahinter. Im kommunistischen Albanien konnten die Menschen gar nie abstimmen. Deswegen waren sie besonders kritisch gegenüber allem, was vom Staat kam.

In der Schweiz haben wir auch darüber abgestimmt, ob wir neue Kampfjets beschaffen sollen oder nicht. Das war okay. Doch nachdem das Stimmvolk Ja gesagt hatte, wollten die Gegner eine neue Abstimmung erzwingen, in der es darum geht, welchen Typ von Kampfjet wir beschaffen sollen. Man kann die Demokratie aber auch ad absurdum führen. Oder nicht?
Diese Kritik kann ich nachvollziehen. Aber dass die Menschen möglichst breit informiert werden sollen, ist eine berechtigte Forderung. Wir dürfen die Politiker nicht eigenmächtig entscheiden lassen.

Israeli historian, philosopher and best-selling author Yuval Noah Harari poses for a photo at his office in Tel Aviv, Israel, Thursday, March 30, 2023. Harari says Prime Minister Benjamin Netanyahu ma ...

Prophezeit das Ende des souveränen Individuums: Yuval Harari.Bild: keystone

Nun zu etwas ganz anderem: Freiheit und Künstliche Intelligenz (KI). Yuval Harari, der berühmte Historiker, warnt davor, dass die KI bald den Menschen verdrängen wird. Teilen Sie diese Befürchtung?
Wie bei allen Technologien lautet für mich die Frage: In welchen Händen befindet sich die KI? Wer hat die Kontrolle darüber und wofür wird sie eingesetzt? KI kann segensreich sein, oder auch das Gegenteil. Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns diese Frage stellen müssen. Sollte es zu einer Katastrophe kommen, dann werden nicht die Roboter schuld daran sein, sondern wir Menschen.

Harari sagt jedoch auch, dass KI die Vorstellung eines souveränen Individuums untergräbt. Diese Vorstellung liegt jedoch auch Ihrer Vorstellung von Freiheit zugrunde.
Ich glaube nicht, dass die KI einen qualitativen Sprung darstellt, der alles verändern wird. Das ist für mich Angstmacherei. Für mich ist es ein grösseres Problem, dass wir immer mehr Macht an Grosskonzerne abgeben.

Ob KI oder zunehmender Autoritarismus: Das souveräne Individuum gerät in Gefahr. Sie sind eine bekennende Anhängerin des Philosophen Immanuel Kant, dem geistigen Vater dieses Konzepts. Kann es im 21. Jahrhundert überleben?
Ich glaube nicht, dass sich grundsätzlich etwas geändert hat. Vor solchen Herausforderungen sind wir auch schon in der Vergangenheit gestanden. Ich bin Kantianerin, weil im Zentrum seiner Philosophie die Vorstellung der Vernunft steht. Eine Vernunft, die sich selbst kritisch gegenübersteht, die aber auch Unterstützung für sich finden kann. Ich mache mir Sorgen über Menschen, welche die Vernunft abschreiben. Womit soll sie ersetzt werden?

«Das Denken in Katastrophen lässt uns den Glauben an die Menschheit verlieren.»

Vernunft kann jedoch auch sehr elitär ausgelegt werden.
Ja, wenn man zu sehr an die Vernunft glaubt, kann sie in Dogmatismus ausarten. Davor hat Kant bereits gewarnt. Man kann nicht im Namen der Vernunft für die gesamte Menschheit sprechen. In der Vernunft vereinen sich traditionelle Sicherheit und traditioneller Zweifel. In der Philosophie geht es darum, die Spannung zwischen diesen beiden Polen zusammenzuführen.

Was heisst dies nun konkret für uns?
Ich will nicht in Pessimismus verfallen. Das Denken in Katastrophen lässt uns den Glauben an die Menschheit verlieren. Das ist keine konstruktive Haltung. Aber gleichzeitig müssen wir stets kritisch bleiben. Diese Dialektik gilt es auszuhalten.

Und wo bleibt da die Hoffnung?
Wenn wir über einen moralischen Kompass verfügen. Wenn wir morgens aus dem Bett steigen im Wissen, dass eine sinnvolle Arbeit auf uns wartet, dann haben wir noch Hoffnung. Warum sollten wir sie verlieren und stattdessen in Panik geraten?

Verschwörungstheorien in den sozialen Medien, autoritärer Rechtspopulismus in der Politik. Hoffnung und der Glaube an die Vernunft werden einem derzeit nicht leicht gemacht.
Wir haben die Pflicht, hoffnungsvoll zu bleiben, aber auch immer kritisch. Verlieren wir die Hoffnung, bevor wir zu handeln beginnen, dann haben wir das Spiel schon verloren. Das ist letztlich die Botschaft, die uns Kant hinterlassen hat.