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Von Djokovic zu Krämpfen getrieben: Die bitterste Stunde von Glückskind Alcaraz

Von Djokovic zu Krämpfen getriebenDie bitterste Stunde von Glückskind Alcaraz

Als Favorit angetreten, wurde der Spanier im Pariser Halbfinal gegen Novak Djokovic von Krämpfen überfallen und verlor in vier Sätzen. Die Anspannung habe ihm zugesetzt, sagte er. Und sein Widersacher.

Bitter enttäuscht: Carlos Alcaraz verlässt den Court, Novak Djokovic applaudiert ihm.

Bitter enttäuscht: Carlos Alcaraz verlässt den Court, Novak Djokovic applaudiert ihm.

Foto: Julian Finney (Getty Images)

Carlos Alcaraz ist ein Glückskind. Überall fliegen ihm die Herzen zu wegen seines ansteckenden Lächelns und seiner überschäumenden Spielfreude. Er eroberte die Tenniswelt im Sturm, wurde dank seinem US-Open-Titel 2022 die jüngste Nummer 1. Die Karriere des Ausnahmeathleten aus Murcia kannte bisher nur eine Richtung: nach oben.

Doch im Halbfinal von Roland Garros musste der 20-Jährige nun seine erste grössere Enttäuschung einstecken. Viele hatten erwartet, er würde Novak Djokovic im Duell der Generationen mit seiner wuchtigen Vorhand und seinem Spielwitz schlagen, vielleicht sogar vom Platz fegen. Doch nach gut zwei Stunden eines hochklassigen Duells wurde er von seinem Körper im Stich gelassen.

«Ich habe mich enttäuscht. Zuerst spürte ich den Arm, dann den ganzen Körper. Ich bekam überall Krämpfe.»

Carlos Alcaraz

Dabei hatte Alcaraz, anfangs überrascht von der ultraaggressiven Spielweise von Djokovic, da gerade so richtig zu seinem Spiel gefunden. Er riss den zweiten Durchgang in einem spektakulären Finish mit 7:5 an sich und glich auf 1:1-Sätze aus. Doch dann wurde er plötzlich von Krämpfen gebremst. «Ich habe mich enttäuscht», sagt er. «Ich fühlte mich vor dem Match grossartig. Aber das Ende des zweiten Satzes war sehr angespannt gewesen. Zuerst spürte ich den Arm, dann den ganzen Körper. Ich bekam überall Krämpfe.»

Nicht primär die körperlichen Strapazen, sondern die Nervosität und Anspannung hätten zu den Krämpfen geführt, mutmasste Alcaraz. Auf dem Weg zu seinem Sieg am US Open hatte er drei Fünfsatzmatches in Serie gewonnen, er gilt als einer der Fittesten auf der Tour. Doch keiner versteht es so gut wie Djokovic, seine Gegner in Stress zu bringen. Zumal der Serbe ganz anders spielte als gewohnt, Alcaraz von Beginn weg attackierte und die Vorhand so hart schlug wie vielleicht noch nie. Er versuchte, den Spanier mit seinen eigenen Waffen zu schlagen – und drängte ihn so aus seiner Komfortzone.

Alcaraz reagierte, doch das kostete ihn offenbar zu viel mentale Kraft. «Es ist nicht einfach, gegen Novak zu spielen», sagt der 20-Jährige. «Er ist eine Legende unseres Sports. Und wenn jemand sagt, er spüre gegen ihn keine Nerven, der lügt. Dazu kam, dass es ein Grand-Slam-Halbfinal war. Und dann waren die ersten zwei Sätze auch sehr intensiv, mit guten Ballwechseln, Sprints, Stoppbällen. Ich hoffe, ich lerne daraus.»

Clever und ausdauernd: Mit seinem ultraaggressiven Spiel überrascht Novak Djokovic seinen Gegner.

Clever und ausdauernd: Mit seinem ultraaggressiven Spiel überrascht Novak Djokovic seinen Gegner.

Foto: Christophe Ena (AP)

Der Spanier konnte kaum mehr laufen, doch die Regeln schreiben vor, dass man wegen Krämpfen kein Verletzungs-Timeout nehmen darf. Er liess sich zweimal auf dem Stuhl massieren, an den Oberschenkeln, den Armen, doch das half nicht genug. Trotzdem quälte sich Alcaraz bis zum bitteren Ende über den Court. «Ich hätte es bedauert, wenn ich aufgehört hätte», sagt er. «Nicht im Halbfinal eines Grand Slams. Ich dachte, dass ich im vierten Satz vielleicht eine einprozentige Chance hätte, zurückzukommen.»

Doch Djokovic blieb konzentriert und pushte sich weiter bis zum Sieg. So sehr, dass ihn das Pariser Publikum auspfiff, weil es dies als respektlos empfand. Die Szenerie erinnerte an den Australian-Open-Final 2014, als Stan Wawrinka den favorisierten Rafael Nadal mit seinem angriffigen Spiel überraschte und sich der Spanier einen Nerv im Rücken einklemmte. Wawrinka gab da sogar den dritten Satz ab, weil er zwischendurch den Fokus verlor, setzte sich dann aber 6:3, 6:2, 3:6, 6:3 durch.

Nur Wawrinka schaffte es

Apropos Wawrinka: Der Romand ist der Einzige, der es mehrmals geschafft hat, Djokovic an Grand Slams nach dem verlorenen Startsatz zu schlagen – und dies gleich dreimal: in Melbourne 2014 und in den Endspielen von Paris (2015) und New York (2016). Wawrinka pflegte in diesen epischen Matches jeweils mit dem Zeigefinger an den Kopf zu deuten. Sich von Djokovic nicht beeindrucken zu lassen, braucht sehr viel mentale Stärke. Das erfuhr nun auch Alcaraz, der immer so unbeschwert wirkt.

«Von Alcaraz wurde erstmals an einem der grössten Turniere der Welt erwartet, dass er gewinnt. Das hat ihm zugesetzt.» 

Novak Djokovic

Wie stabil Djokovic auch mit 36 immer noch ist, und das nach einer durchzogenen Vorbereitung auf Roland Garros, ist schon beeindruckend. Der Serbe sagte nach seinem Sieg sehr kluge Dinge über Alcaraz. Er habe früher selber erfahren, wie sehr einen die Emotionen und Umstände beeinflussen könnten. «Von Alcaraz wurde erstmals an einem der grössten Turniere der Welt erwartet, dass er es gewinnt. Er war nicht mehr der Underdog, der den Titel jagt und versucht, gegen einen Favoriten zu gewinnen. Es war umgekehrt. Das hat ihm wahrscheinlich zugesetzt.»

Solche Erfahrungen zu machen, sei Teil einer Karriere. «Er ist erst 20. Er hat noch ganz viel Zeit. Er hat in den letzten zwei Jahren schon so viel Reife gezeigt. Er kam auf die Tour, gewann sein erstes Turnier, und ein Jahr später holte er schon seinen ersten Grand-Slam-Titel und wurde er die Nummer 1. Ich habe grossen Respekt vor ihm.»

Djokovic hat vielleicht nicht mehr «ganz viel Zeit», aber er bewies gegen Alcaraz, dass er immer noch das Mass aller Dinge ist. Er gewann seinen 20. Grand-Slam-Match in Serie, und es würde erstaunen, käme am Sonntag nicht Nummer 21 dazu. Was bedeuten würde, dass er Rafael Nadal mit seinem 23. Grand-Slam-Titel hinter sich lassen würde. Djokovic spielt nicht mehr immer so überzeugend, aber wenn es darauf ankommt, ist auf ihn Verlass.

Simon Graf ist stv. Leiter des Ressorts Sport und berichtet seit über 20 Jahren über Eishockey und Tennis. Er studierte an der Universität Zürich Geschichte und Germanistik und verfasste mehrere Sportbücher. Sein aktuelles: «Inspiration Federer».Mehr Infos@SimonGraf1

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