Schäden am StrassentunnelMuss der Bauvorgang am Gotthardtunnel geändert werden?
Die zweite Röhre liegt zu nahe am bestehenden Tunnel. Darum sind die Bauarbeiten gefährlich geworden.
Kaum Abstand: Das Südportal des Gotthard-Strassentunnels. Direkt neben dem Tunneleingang sieht man die Bauarbeiten für die zweite Röhre.
Foto: Keystone/Gaëtan Bally
Der Schreck war gross, als am Sonntag, 10. September, kurz nach 16 Uhr bei der Kantonspolizei Uri die Meldung einging, dass sich von der Decke des Gotthard-Strassentunnels Betonteile gelöst haben und auf die Fahrbahn gefallen sind. Nur der Umstand, dass ein Pannenfahrzeug den Verkehr blockiert hatte, verhinderte, dass es zu einem Unfall kam. Rasch kam der Verdacht auf, dass die Bauarbeiten beim neuen Strassentunnel dazu geführt haben könnten, dass sich die Decke löste. Zudem kam es am Sonntag um 16.15 Uhr zu einem seismischen Ereignis, was an ein lokales Erdbeben denken liess.
Darum wurden die Bauarbeiten innerhalb des Bergs eingestellt. Nun, drei Wochen nach dem Schadensereignis, wird klar, was die wahrscheinliche Ursache für den 25 Meter langen Riss in der Zwischendecke war – und was nicht. Weniger klar sind die Konsequenzen, die aber gravierend sein können.
Wie die Ingenieure die Natur überlisten wollen
Bis zum besagten Sonntag wurde am neuen Gotthardtunnel fleissig gebaut. Die Ingenieure hatten sich einen raffinierten Plan ausgedacht, denn nach nunmehr 3 bestehenden Tunnels, des Eisenbahntunnels, des Neat-Tunnels und des bestehenden Strassentunnels, kennen sie den symbolträchtigen Berg sehr gut. So wussten sie, dass es unmittelbar nach den Portalen im Norden und im Süden instabile Zonen gibt, die sich nicht mit der Tunnelbohrmaschine durchdringen lassen. Darum bauten sie erst einen rund 4 Kilometer langen Zugangsstollen in den Berg. Von dessen Ende her sprengen sie sich im Norden zurück Richtung Portal (siehe Grafik). Gleichzeitig fingen die Arbeiten vom Nordportal her an. Bis Anfang September wurden die Mineure fast fertig. «Der Gegenvortrieb in Göschenen ist zu 90 Prozent fertig, es fehlen noch rund 50 Meter Ausbruch im festen Fels», sagt Thomas Rohrbach, Sprecher des Bundesamts für Strassen (Astra).
Am Freitag, dem 8. September, führten sie eine letzte Sprengung durch, die sie bis zu 300 Meter Richtung Ausgang brachte. Es fehlt nicht mehr viel, bis dass sich die beiden Tunnels finden. Rohrbach: «Von Norden her müssen noch etwa 90 Meter Lockergestein abgetragen werden, dann treffen die Mineure aufeinander.»
Am Sonntag kam es dann zum Riss in der Zwischendecke. «Die Schadenstelle befindet sich rund 300 Meter nach dem Nordportal», sagt Rohrbach. Das ist offenbar sehr nahe von der Stelle, wo der eigentliche Berg beginnt. «Diese Strecke teilt sich auf in 200 Meter Vortunnel, bestehend aus Kunstbauten sowie Überdeckungen, und 100 Meter Tunnel.»
Kein direkter Zusammenhang mit den Sprengungen
Nach den bisherigen Erkenntnissen kann eine Unfallursache praktisch ausgeschlossen werden. Rohrbach: «Ein direkter Zusammenhang mit der letzten Sprengung ist nicht gegeben, die beiden Ereignisse liegen zeitlich mehr als 48 Stunden auseinander.» Die Erdbebenwarte bekräftigt diese Argumentation. So hat sich herausgestellt, dass das seismische Ereignis, über das nach dem Einsturz berichtet wurde, kein Erdbeben war, weder ein natürliches, noch eines, das von einer Sprengung herrührt. Vielmehr wurde das seismische Ereignis vom Riss in der Decke ausgelöst, es war also nicht eine Ursache des Schadens, sondern eine Folge davon.
Ein weiterer Verdacht fällt auch weg. Vor gut 10 Jahren kam ein Gutachten zum Schluss, dass die Aufhängungen der Zwischendecke teilweise angerostet sind. Doch Rohrbach sagt nun: «Luftfeuchtigkeits- und Oberflächentemperaturmessungen haben gezeigt, dass es im Tunnelinnern nur wenig Wasser an der Zwischendecke infolge Kondensbildung und darum keine hohen Feuchtigkeitswerte gibt.» Am Ort des Ereignisses konnte laut Rohrbach keine Korrosion festgestellt werden, weder an der Decke selbst (Armierung) noch an den Aufhängestangen. «Korrosion und damit auch der Zustand der Zwischendecke insgesamt kann als Ursache ausgeschlossen werden.»
Tunnels an dieser Stelle zu nahe zusammen
Was bleibt, sind Spannungsumlagerungen im Berg. Die können verschiedene Ursachen haben. Rohrbach: «Eine davon sind Ausbruchsarbeiten im Berg. Die Frage, welche nun mit externen Fachpersonen geklärt wird, ist, wie weit die Spannungsumlagerungen, welche zum Riss der Zwischendeckenplatte geführt haben, auf die Ausbruchsarbeiten zurückzuführen sind.» Dabei ist möglicherweise entscheidend, dass die Tunnels an der Schadenstelle sehr nahe zusammen sind. Normalerweise wird ein Sicherheitsabstand von mehr als dem dreifachen Durchmesser des ausgehobenen Tunnels eingehalten. Der Tunneldurchmesser beträgt knapp 14 Meter. Vorgesehen in den offiziellen Plänen ist darum ein Abstand von 70 Metern. An der Schadenstelle sind es aber deutlich weniger. Dazu sagt Rohrbach: «Einen grossen Abstand zwischen dem Portal lassen die Platzverhältnisse weder in Göschenen noch in Airolo zu. Die zweite Röhre wird an die bestehende A2 angeschlossen, dies bedingt eine gewisse Nähe der beiden Tunnelröhren im Portalbereich.»
Rohrbach: «Zwischen dem Ort der letzten Sprengung und der Schadenstelle liegen rund 40 Meter. An der Schadenstelle, die sich rund 300 Meter nach dem Nordportal befindet, liegen die beiden Röhren aus den oben erwähnten Gründen noch näher beisammen.» Entsprechend gelten für die Ausbruchsarbeiten strenge Grenzwerte, welche nicht überschritten werden dürfen.
In den nächsten 10 Tagen ist zu erwarten, dass die Ursache geklärt wird. Eine Routenänderung, um die 70 Meter Abstand früher zu erreichen, will man nicht vornehmen. Auch nicht im Süden, wo die entsprechenden Arbeiten noch nicht so weit sind, sondern erst beginnen.
Experte spricht von Änderungen am Bauvorgang
Der unabhängige Tunnelbauexperte Hansruedi Keusen sagt dazu: «Da ein Erdbeben und ein direkter Zusammenhang mit den Sprengungen ausgeschlossen scheinen, bleiben als mögliche Ursachen eigentlich nur Spannungsumlagerungen oder materialtechnische Probleme der Zwischendecke.» Letzteres schliesst das Astra mittlerweile aus. Das bedeutet aber nicht eine Entwarnung, sondern eher eine Verlängerung des partiellen Baustopps. «Solange die genaue Ursache nicht bekannt ist, können die möglichen weiteren Risiken für den Strassentunnel und der zweckmässige Umgang mit diesen Risiken nicht beurteilt werden.»
Es könne natürlich sein, dass alles ein Zufall sei, aber Keusen sagt: «Sollten die Untersuchungen ergeben, dass Spannungsumlagerungen, das heisst, eine geologische Antwort des Gebirges auf den Tunnelvortrieb die Ursache ist, müsste mit weiteren solchen Ereignissen gerechnet werden, unabhängig davon, ob gesprengt oder die Tunnelbohrmaschine eingesetzt wird.» Das hat Konsequenzen, sagt Keusen: «Eine sorgfältige Abwägung der Risiken ist notwendig. Für deren Beherrschung ist möglicherweise eine Änderung des Bauvorgangs erforderlich.»
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