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Pop-Briefing: Wenn Boomer versuchen, Tiktok zu verstehen

Pop-BriefingWenn Boomer versuchen, Tiktok zu verstehen

Warum klingt San Silvan wie Sophie Hunger? Was ist mit Bob Marleys Sohn los? Und zu welcher Musik wird gerade in der Karibik getanzt? Dies und 70 neue Song-Entdeckungen in unserer Pop-Kolumne.

Das war ein Spass: Roisin Murphy mit apartem Kleid am Gurtenfestival 2023. Jetzt gibts ein neues Album von ihr.

Das war ein Spass: Roisin Murphy mit apartem Kleid am Gurtenfestival 2023. Jetzt gibts ein neues Album von ihr.

Foto: Franziska Rothenbühler

Im Gegensatz zu anderen Lebensbereichen bedeutet der Herbst im musikalischen Kontext bekanntlich Gedeih und Aufbruch. So erwarten uns in diesem Jahr unter vielem anderen noch die mit unterschiedlicher Inbrunst herbeigesehnten Alben von Drake, den Rolling Stones, oder Dolly Parton. Und vielleicht schaffen es ja tatsächlich auch The Cure noch, ihre lange angekündigte Einspielung «Songs of a Lost World» auf den Markt zu bringen. Der Titel wäre jedenfalls noch immer ganz aktuell. 

Wir haben wieder mal in den Nischen gestöbert und Lieder entdeckt, die womöglich sogar noch ein bisschen aufregender sind als die neue Single der Rolling Stones, die etwa so abgefingert klingt wie die Kreatividee zum dazugehörigen Video (eine leicht beschürzte Leder-und-Nieten-Blondheit räkelt sich vier Minuten lang in einem roten Cabriolet). 

Hier gehts zur dazugehörigen Playlist, die mit über 70 neuen Liedern aus allen stilistischen Himmelsrichtungen angereichert wurde: Von der Dylan-Ballade über neuzeitliche Clubmusik und Post-Punk bis zum brasilianischen Jazz.

Das sollte man hören

Deeper: «Fame»

Zum Beispiel ist da diese Band aus Chicago, die so wunderbar den Post-Punk in Melancholie tunkt. Sie heisst Deeper und hat mit «Careful!» ein sowohl technisch wie melodiös hoch spannendes Album veröffentlicht. Sie selber verorten ihren Inspirationsquell bei Iggy Pop, David Bowie und MGMT, aber irgendwie hat sich da noch ein ganzes bisschen New-Wave-Defätismus ins Geschehen eingeschlichen.  

Fortuna Ehrenfeld: «An der Ecke bellt ein Hund»

In der deutschen Subkultur scheint das Balladenpiano gerade Hochkonjunktur zu feiern. Nach Danger Dan lässt sich auch Martin Bechler, der Sänger der Band Fortuna Ehrenfeld, immer wieder gern hinter einem solchen blicken. Das neue Album «Glitzerschwein» eröffnet er mit einem Lied so schön wie ein Wehmutsspaziergang im Herbst, mit ein bisschen Restalkohol von der vorangegangenen Nacht im Blut. 

Unticipated Soundz: «Thetha»

Ein kurzer Seitenblick sei auf die Clubmusik von Südafrika geworfen, genauer gesagt auf den Gqom, diese aus dem Kwaito erwachsene afrikanische House-Variante, die auf repetitiven Raps und hypnotischen Beats aufbaut. In diesem Genre ist bei diversen altgedienten Produzenten aktuell eine bedauerliche Tendenz zur süffigen Melodie auszumachen. Ein Begehren zur Gefälligkeit, das schon so spartanisch-knackige Tanzboden-Stile wie der Kuduro oder der Reggaeton ins künstlerische Zwielicht bugsierten. Deshalb sei hier auf das neue Album «Bass Planet» von Unticipated Soundz verwiesen, eines Kollektivs, das sich selbst dem Genre des Hardcore-Gqom zugehörig zählt. Bei diesem Trio aus Durban scheinen die Rapperinnen und Rapper in einer sprechgesanglichen Endlosschleife zu drehen und die Beats grooven in nie zuvor erforschten Sphären. 

Bebel Gilberto: «É Preciso Perdoar»

Eines soll der Bossa-nova-Übervater João Gilberto seiner singenden Tochter Bebel auf den langen Musikweg mitgegeben haben: Nicht um die jederzeit perfekte Intonation gehe es in der Musik, sondern es gelte, Musik so darzubringen, dass Menschen davon berührt würden. Das hat die Dame in ihrer Karriere nicht immer eingelöst. Nach ihrem epochalen Debüt «Tanto Tempo» (1996), auf dem sie mit dem kleinen Zeh in der Bossa-nova-Zukunft stocherte, ist ihr nicht mehr viel Erbauliches geglückt. Auf ihrem neuesten Album spielt sie nun ausschliesslich Lieder ihres 2019 bettelarm verstorbenen Papas, des Bossa-nova-Erfinders. Sie tut dies mit grösstmöglicher Geschmackssicherheit und mit einem leichten Zeitgeisthauch. 

P Money: «Junkyard»

Den erfreulichsten Rap-Track der letzten Zeit liefert uns der Londoner Grime-Held P Money. Auf «Junkyard» wedelt er mit seinen Rap-Kollegen Ocean Wisdom und Whiney euphorisierend zwischen Grime und Drum ’n’ Bass. 

Stephen Marley: «Cast the First Stone»

Ich bin mir absolut sicher: Hätte Bob Marley den Song «Cast the First Stone» zu seinen Lebzeiten geschrieben, er würde als Klassiker stündlich in allen Hit- und Oldies-Radios gespielt, an Hochzeiten gewünscht, und Rasta-Hippies würden ihn in den Fussgängerzonen auf ihren Holzgitarren nachvollziehen. Nun ist der Song aber bloss vom begabtesten Marley-Sohn Stephen für dessen neues Album «Old Soul» eingespielt worden. Und da wir in Zeiten leben, in denen auch die schönsten Lieder im schieren Schwall von Veröffentlichungen unterzugehen drohen, wird es wohl nichts mit Welthit. Es wäre dieser sehr geschmackvoll auf Gitarre, afrikanische Perkussion und ein trauriges Piano reduzierten Ballade zu gönnen gewesen. 

Lalalar: «Yaşamaya Bahane Ver»

Wo bloss liegen die Wurzeln dieser Musik? In einer türkischen Kulturkaschemme der 60s? In der westlichen Subkultur der 80s? Oder im Club der Zukunft? Das fragte man sich, als die Gruppe Lalalar 2021 an der Bad-Bonn-Kilbi in Düdingen ein bis heute unvergessenes Konzert aufführte. Nun haben die Istanbuler auf dem Genfer Label Bongo Joe ein neues Album veröffentlicht, das alles bisher Gehörte im Bereich des Nahost-Retro-Futurismus in den Schatten stellt. Lalalar, das ist die Gleichzeitigkeit von Nostalgie und Moderne, von Coolness und Hitzigkeit, von Tanzwut und Sanftmut. Das ist euphorisierende, raffinierte und teils auch herzergreifend-brünstige Tanzmusik mit – falls es denn so etwas überhaupt gibt – leicht orientalischem New-Wave-Einschlag.

Roisin Murphy: «What Not to Do»

Es gab eine Zeit, in der das Interesse an Roisin Murphy ein bisschen zu welken drohte. Mit dem italienischen Produzenten, mit dem die einstige Sängerin der Trip-Hop-Meister Moloko bis heute liiert ist, wollte es kreativ nicht so zünden. Nun hat sie mit dem deutschen Produzenten DJ Koze das Album «Hit Parade» eingespielt, das stellenweise alte Klasse aufblitzen lässt (das dazugehörige Konzert am diesjährigen Gurtenfestival gedieh zum absoluten Lustgipfel). Hier wird Soul ziemlich dreist mit Avantgarde und elektronischer Tanzmusik verquirlt, was zu wiederkehrendem Aufhorchen führt. In einem Interview mit der «Vogue» hat sie ihr Kunstwollen folgendermassen erklärt: «Ich glaube, wir leben in einer Art goldenem Musikzeitalter, denn all diese Genres – afrikanische Musik, indische Musik, Hip-Hop, House, Detroit, Sheffield, Rock, Avantgarde und so weiter –, all das war früher sehr viel getrennter. Und wenn die Stile mal zusammengeworfen wurden, dann nannte man das ‹eklektisch›. Heute ist das nicht ‹eklektisch›, es ist einfach natürlich. Ich finde das grossartig.»

Bossla: «Essayer Try»

Bisher war die Hauptaufmerksamkeit, was karibische Musik betrifft, fast gänzlich auf das Eiland Jamaika gerichtet. Doch weil da jetzt nicht gerade der Innovations-Hurrican wütet, hat man sich auf der Karibikinsel Martinique gedacht, es wäre wohl an der Zeit, mit einem alternativen Sound vor die Welt zu treten. Er nennt sich Shatta und findet gerade Einzug auf den Laufstegen in Paris (Thierry Mugler) oder in den Studios der französischen Topproduzenten. Entstanden ist eine eher sanfte, radikal elektronische und geschmeidig-synkopiert groovende Form des Dancehall. 

Und die Stars? Da wäre zum Beispiel ein gewisser Shootaàs, der vom französischen Reims aus wunderbar minimalistische kreolische Bass-Music bastelt. Gleiches tut Bossla auf seinem neuen Mixtape «Shatta Dem». Er lebt in Martinique und St. Lucia und nimmt es mit dem elektronischen Minimalismus besonders genau. Und dann ist da – neben vielen mehr – die wunderbare Maureen, welche dem grassierenden Sexismus der Szene Konter gibt und mit dem feministischen «Tic» den bisher grössten Hit der Szene gelandet hat. Da die Radios sich lange weigerten, Shatta-Tracks zu spielen, verbreitete sich die neue Musik vornehmlich auf Soundcloud. Seit 2018 ist der neue Stil jedoch im Mainstream von Martinique angekommen. Höchste Zeit, ihn auch hier zu entdecken.

Deena Abdelwahed: «Violence for Free»

Futuristische arabische Clubmusik? Irgendwie fehlt die Fantasie, sich darunter etwas vorzustellen. Die in Frankreich lebende Tunesierin Deena Abdelwahed liefert Hinweise, wie das klingen könnte. Auf ihrem neuen Album «Jbal Rrsas» macht sie sich daran, die Musik ihrer Heimat in ihre Einzelteile zu zerlegen und neu zusammenzubosseln. Da trifft arabischer Gesang auf elektronische Tribal-Beats, experimentell glucksende Synthesizer auf traditionelle Perkussion, Avantgarde auf Schönheit – und all das zuckt unter dem arabischen Stroboskop. 

Darüber wird gesprochen

Die News, die aus der Entertainment-Rubrik auf unser Redaktionsdesk tröpfeln, sind wieder einmal erschreckend dünn. Herr Springsteen muss seine Tournee wegen Magengeschwüren abbrechen, Shakira hat Probleme mit der spanischen Steuerbehörde, Britney Spears hat sich bei einem sonderbaren Messertanz verletzt, und Lena Meyer-Landrut bildet sich zur Tätowiererin um.

Ganz andere Probleme hat derzeit die Musikindustrie: Am grossen Branchentreff, dem Reeperbahn-Festival, wurden letzte Woche in 180 Panels die Themen behandelt, die das Tagwerk der Musikschaffenden und von deren Komplizen gerade etwas verkomplizieren. Einen Schwerpunkt könnte man etwa so umschreiben: Die Boomer-Generation versucht, das kryptische Tiktok zu entschlüsseln. Gleich mehrer Panels widmeten sich dem eigendynamischen Portal, das Stars macht, ohne dass die Branche dies beeinflussen könnte, was diese gerade ein bisschen beleidigt.

Zudem: Festivalveranstaltende beklagten die zunehmende Konkurrenz durch Stadiontourneen, man konstatierte, dass die Generation Z sich nicht um die arbeitsintensiven Jobs in der Musikbranche reisst, und man fragte sich – oje –, ob es sich für Musikerinnen und Musiker nicht lohnen würde, eigene Podcasts zu lancieren. 

Und natürlich war die KI ein Dauerthema. Neueste Entwicklung: Labels überlegen sich, ob sie die Talententdeckung nicht auch der künstlichen Intelligenz überlassen könnten. Na dann: Guten Abend, schöne alte Musikromantik.

Das Schweizer Fenster

Am Reeperbahn-Festival sind dieses Jahr auch diverse Schweizer Musizierende aufgetreten: Mit im Rennen um die Branchen-Gunst waren Andrina Bollinger, Asbest, Mischgewebe, Di-Meh, Mehmet Aslan, La Colère, Cobee, Sirens of Lesbos und Soft Loft. 

Evelinn Trouble: «Jamais»

Evelinn Trouble hat ihren Reeperbahn-Auftritt letztes Jahr absolviert. Und auch sonst hat sie in ihrem Dasein ja schon einige kuriose Dinge getan. Doch etwas vom Begrüssenswertesten ist die Veröffentlichung ihres ersten französischen Schlagers. Er heisst «Jamais» und wurde auf der ganz grossen Gefühlsklaviatur eingespielt. Die Geschichte dahinter: Die Macherinnen und Macher des Tunichtgut-Films «De noche los gatos son pardos» wollten eine Szene mit einem Song von Dalida untermalen. Eine Woche vor der Premiere wurde ihnen mitgeteilt, dass sie die Rechte nicht bekommen. Evelinn Trouble sprang ein und erfand in einer Nacht dieses hochtrabende Chanson. Was für eine hübsche Fügung. 

San Silvan: «Samba»

Sein Name klingt wie ein bisher unentdeckter Schweizer Pass: San Silvan. Und er ist das neueste Signing des ehrenwerten Schweizer Musiklabels Two Gentlemen (Sophie Hunger, Erik Truffaz, Dino Brandão, Faber u.a.). San Silvan ist das Soloprojekt des Panda-Lux-Sängers Silvan Kuntz, die erste EP wurde von Sophie Hunger mitproduziert und mitgeschrieben – und das hört man dem Endprodukt auch ganz deutlich an: Deutschpop mit kohlenrabenschwarzer Seele.

«Cori Nora: Force Quit»

Aus Basel erreicht uns die Stimme von Cori Nora, und sie hallt durch analoge Synthie-Tiefdruckgebiete, wird umschmeichelt von verspielten Gitarren und traurigen Saxofonen. Und in das Ganze blinzeln scheu ein paar Sonnenstrahlen. Bald soll das erste Album folgen. 

Das Jazz-Fenster

Idris Ackamoor: «Truth to Power»

Afrofuturistische Chorgesänge, Free-Jazz-Saxofone, verhallte Stromgitarren, güldene Pharaonengewänder und aller Gattig andere Dinge, mit denen man den weissen Mann und die weisse Frau irritieren kann, das bietet Idris Ackamoor auf seinem neuesten Album. Er ist der Mann, der in den frühen 70ern den Afrobeat in den USA ruchbar gemacht hat, der dann aber geheimnisvoll von der Bild- und Tonfläche verschwand, Buchhalter wurde und seine Band The Pyramids erst vor einigen Jahren wiederbelebt hat. Ein guter Entscheid. Sein verspiegelter Afrojazz ist auch heute noch von angenehmer Ungereimtheit.

Erik Truffaz: «L’alpagueur»

Kürzlich gewann der eher als Franzose gelesene Trompeter Erik Truffaz den mit 100’000 Franken dotierten Schweizer Musikpreis. Das scheint den Herrn kreativ beflügelt zu haben. Bei der Preisverleihung in Bern spielte er ein absolut zauberhaftes Duett mit dem Akkordeonisten Mario Batkovic (und ein etwas weniger zauberhaftes mit unserem Alain Berset). Nun kommt er – kurz nach dem Erscheinen seines Cineasten-Albums – mit einem neuen Blue-Note-Track um die Ecke, auf dem er seine Forschungsfühler in Richtung des 70s-Fusion-Jazz eines Miles Davis ausstreckt. 

Nicole Johänntgen: «Simplicity, Curisosity!»

Die in Bern lebende Saxofonistin Nicole Johänntgen gehört zu den schaffigsten Exponentinnen des hiesigen Jazz. Sie hat schon 17 Alben eingespielt, tourt durch halb Europa und führt ein eigenes Label. Ihre neueste Einspielung heisst «Labyrinth» und man könnte das Gebotene als Street-Jazz bezeichnen: Im Bassbereich prustet ein Sousafon, die Perkussion verweist nach Afrika und die minimalistische Wucht nach New Orleans, wo Nicole Johänntgen sich länger aufhielt und bereits ein Album einspielte. Ein erquickendes Werk. 

Sie sind gegangen

Wir möchten dieses Pop-Briefing nicht schliessen, ohne uns von zweien zu verabschieden, die in diesem Jahr von uns gegangen sind, ohne die ganz grossen Nachrufspalten gefüllt zu haben: 

Jean-Louis Murat 

Jean-Louis Murat ist einer der wenigen Chansonniers, mit denen Stephan Eicher nie ein Duett angestrebt hat. Er fürchte sich ein bisschen vor diesem knorrigen Herrn aus dem Zentralmassiv, hat er mir mal in einem Gespräch verraten. Ende Mai ist der Mann mit der traurigen Stimme für immer verstummt. Weit über zwanzig Tonträger hat er der Welt geschenkt, einer Welt, an der er zunehmend zu verzweifeln drohte. 

Begonnen hat er sein Lebenswerk 1981 mit der semiheiteren Single «Suicidez-vous», die von den Radiostationen kurzerhand zensuriert wurde. In der Folge hat er in Amerika mit der Gruppe Calexico ein wunderbares Album eingespielt («Mustango», 1999), ebenso mit der Schauspielerin Isabelle Huppert («Madame Deshoulières», 2001). Er schrieb Songs für Johnny Hallyday und Sylvie Vartan – und doch war er in der französischen Popszene keine Adresse, vor der sensationsgierige Paparazzi Nachtdienste schoben. Zu schwermütig sein Musikschaffen, zu unzugänglich der poetische Einzelkämpfer.

Es sind keine fröhlichen Lieder, die uns Jean-Louis Murat hinterlässt. In ihnen wohnt diese unsichere Sehnsucht von Menschen, die nicht genau wissen, ob das Leben noch ein Bruchstück Glück für sie übrighat, oder ob es an der Zeit ist, der Hoffnung endgültig zu entsagen.

Peter Brötzmann 

Meine erste Kollision mit Peter Brötzmann muss Mitte der Achtzigerjahre stattgefunden haben. Er spielte in der Band Last Exit mit Sonny Sharrock, Bill Laswell und Ronald Shannon Jackson, und was er da darbrachte, überbot in Sachen Furor und musikalischer Raserei alles, was ich zuvor gehört hatte.

Das war Free Jazz im tiefroten Bereich, und genauso tiefrot verfärbte sich das Gesicht dieses Saxofonisten, sobald er wieder zu einer Solo-Triade ansetzte. Nichts für Feingeister. Musikalischer Eskapismus, Borderline-Jazz von fast schon furchteinflössender Vehemenz. Seither war er für mich so etwas wie der Iron Man des Jazz. Für sein rotziges Spiel wurde gar ein eigener Begriff erfunden, das sogenannte Brötzen. 

Dass er auch anders konnte, bewies er auf dem Soloalbum «I Surrender Dear», auf dem er Evergreens der Jazzgeschichte neu interpretierte, ansatzweise in staunenswerter Schönheit, aber immer wieder von der hinterlistigen Lust gepackt, diese Jazzschlager ins Dissonante zu verrenken.  «Von allen Jazzinnovatoren ist er derjenige, der am radikalsten mit allen Traditionen gebrochen hat – nicht nur des Jazz, sondern des Musizierens überhaupt», schrieb der Autor Ernst-Dieter Fränzel über ihn. Am 22. Juni ist der Berserker des Jazz in Wuppertal gestorben. 

Ane Hebeisen ist Musikredaktor und schreibt seit 1996 über Pop und Artverwandtes aus aller Welt.Mehr Infos

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