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Michel Houellebecq: Die Scham über den eigenen Pornofilm

Michel HouellebecqDie Scham über den eigenen Pornofilm

Pornografischer Film? Grosser Fehler! Islamfeindliche Aussagen? Missverständnis! Wie sich ein verloren wirkender Michel Houellebecq in einem neuen Büchlein rechtfertigt.

Was ist jetzt, 2023, aus Michel Houellebecq noch übrig von dem Mann, der einst gar nicht hart und böse genug austeilen konnte?

Was ist jetzt, 2023, aus Michel Houellebecq noch übrig von dem Mann, der einst gar nicht hart und böse genug austeilen konnte?

Foto: imago images/ZUMA Wire

Unter den vielen traurigen Büchern, die der französische Schriftsteller Michel Houellebecq geschrieben hat, ist sein neuestes, schmales Werk das traurigste. In seinem letzten, wichtigen Roman, der im Frühjahr 2022 unter dem Titel «Vernichten» erschien, hatte sich noch ein Funke Lebensfreude und Zuversicht in die Schilderung einer von Krebs und Demenz heimgesuchten französischen Familie geschlichen. Die erträgliche Lage des Landes, der solide Zustand der Politik und die Möglichkeit des Glücks in der Ehe waren Lichtstrahlen, die die wie immer planlosen Figuren des Buches überraschend trafen, erhellten und erfreuten.

Als Leser hatte man sich gewundert, denn die öffentlichen Äusserungen des Autors weisen nie in Richtung Optimismus, aber er hatte vor nicht allzu langer Zeit geheiratet. Fotos der Trauung waren überraschend und, wie immer, wenn es sich um Michel Houellebecq handelt, weltweit überall zu sehen: Er trug an seinem grossen Tag einen ganz erstaunlichen grauen Anzug mit Hütchen und lächelte selig. Doch das ist lange her. Nun wurde sein neues Buch ausgeliefert, es ist eine Art Tagebuch und Selbstreflexion über die Jahreswende von 2022 in dieses Jahr und endet im April 2023. Es beschreibt eine moralische, soziale und juristische Höllenfahrt, die beim Lesen heftiges Mitleid erzeugt, ab und zu muss man allerdings auch lachen.

Houellebecq hat sich sein juristisches, optisches und sexuelles Ungemach – daran lässt er kaum einen Zweifel – zum grössten Teil selbst zuzuschreiben, aber das macht alles ja noch schlimmer. Wenn man kein Fan des Autors ist, dann hat man vielleicht gar nicht mitbekommen, dass er seit Jahresbeginn im Zusammenhang mit einem Avantgardeprojekt oder, je nach Betrachtungsweise, einem Porno genannt wird und sich juristisch dagegen wehrt. Man könnte ihn also einfach weiterhin für den berühmtesten europäischen Autor unserer Zeit halten, einen hellen Stern am Himmel der Literatur, der durch das Schreiben nicht nur ein Vermögen verdient, sondern auch privat sein Glück gefunden hat. Alle paar Jahre veröffentlicht er einen dicken Roman, dem globale Aufmerksamkeit garantiert ist, dann und wann wirkt er in einem Spielfilm mit oder wird mit Thesen zitiert, die alle Welt in extreme Diskutierbereitschaft versetzen. Houellebecq wird auch immer als ein eminent politischer Autor gelesen und mehr noch als ein Prognostiker: In «Plattform» nahm er Terrorangriffe auf Touristenziele in Bali vorweg, in «Unterwerfung» Attentate mit Automatikgewehren, mitten in Paris.


Eine Studentin wollte ihn treffen, er machte sich Hoffnung auf Sex, warum auch nicht

Sein neues Buch «Quelques mois dans ma vie», also «Einige Monate in meinem Leben» (erscheint auf Deutsch im Juli), nutzt seine immensen Fähigkeiten zum Zwecke der Selbstentfesselung, er spricht von einer Übung in Exorzismus. Was war los? In den letzten Wochen des vorigen Jahres, so schreibt er, habe er Mails von einem niederländischen Künstler erhalten. Es ging um ein Projekt als Hommage an HP Lovecraft, jenen Autor, dem Houellebecq ein frühes Buch gewidmet hat. Bestandteil des Projekts sei gewesen – so ganz genau scheint es Houellebecq auch nicht mehr nachvollziehen zu können -, dass ihn eine junge niederländische Studentin und begeisterte Leserin seiner Romane in Paris treffen wolle. Der Autor machte sich Hoffnung auf Sex, und seine Ehefrau, so schreibt er, pflichtete ihm bei, das schwinge bei diesem Wunsch nach einem Treffen irgendwie mit.

An dieser Stelle flicht der Schriftsteller in eigener Sache eine gewundene Erklärung ein, in der er darlegt, warum der Sex zu dritt spezielle Vorzüge bietet, die den Mann an den «Gipfel irdischen Glücks» führen – die beiden Frauen agieren in diesem Bild als Sherpas. Wiedergeben kann man diese Passagen des bisher nur auf Französisch erschienen Werks in einer Familienzeitung wie dieser nicht, obwohl sie teilweise eher wie die Gebrauchsanleitung zum Anschluss einer Waschmaschine klingen, denn als Beschreibung erotischer Ekstase. Kurz gefasst: Man kann seine Frau sehr lieben, aber tätige Hilfe an der männlichen Orgasmusfront ist auch stets willkommen.

Früh im Text verzichtet der Autor darauf, die Namen der Beteiligten zu verwenden, sondern greift auf Tiernamen zurück, also geht es um die Kakerlake, die Sau, den Truthahn und die Viper, wobei der Genus im Französischen unterschiedlich ist: Kakerlake ist ein Mann, der niederländische Künstler Stefan Ruitenbeek. Er lädt den Franzosen kurz vor Weihnachten nach Amsterdam ein, um, in Begleitung seiner Ehefrau, weitere Frauen zu treffen und mit ihnen Sex zu haben. Ursprünglich hatten die Houellebecqs vorgehabt, den Dezember in Marokko zu verbringen, mussten aber aus Sicherheitsgründen absagen.


Der weltberühmte Schriftsteller klingt wie der Amateurrezensent einer Ferienanlage

Im Sommer des vergangenen Jahres – dieses Thema bildet einen weiteren Strang des Buches ­- hat der Literat in einem sehr langen Gespräch mit dem Philosophen Michel Onfray diskriminierende und beleidigende Aussagen über die in Frankreich lebenden Muslime gemacht. Der erste Teil von «Quelques mois dans ma vie» ist nötig, um sich zu erklären und aus der Zone der reinen Hate Speech herauszufinden, aber er liest sich eher wie der Versuch einer Cartoonfigur, die hektisch zurückrudern will, während sie im Kanu auf die Niagarafälle zutreibt. Er habe etwas gegen das Verbrechen an sich und natürlich nichts gegen den Islam! An den Fakten ändert es nichts: Auf dem Höhepunkt seines Ruhms nahm Houellebecq bei Michel Onfray Platz und rückte französische Muslime in die Nähe von Kriminellen.

Houellebecqs Kleinmut hat mit dem Fortgang seiner Weihnachtsferien in Amsterdam zu tun. Am 21. Dezember unterschrieb er im Hotel Ambassade einen Vertrag mit Ruitenbeek und räumte ihm die Rechte an dem Kunstprojekt oder Porno ein, an dem er mitwirken sollte. Schlichten Gemütern, die dieses kurze, aber komplizierte Buch lesen, stellt sich an dieser Stelle die Frage, warum er unterschrieben hat. Eine richtige Antwort hat Houellebecq nicht parat. Wie bei seinem Exkurs über das erotische Trio folgt auch hier eine gewundene Erklärung über die praktischen Probleme, den Akt zu filmen. Zumal er selbst – hier erspart er dem Publikum kein Detail, resümieren wir die Passage mit dem Hinweis, dass er sich nicht zum Multitasking eignet – aber doch gerne einen Film davon hätte, was er im Bett so treibt. Aber da müsse ein Profi aushelfen.


Er ist zugleich luzider Analytiker der Gegenwart und so völlig verloren

Hielt er seinen niederländischen Freund also für eine Art Privatpornografen? Die Logik stellt sich nicht ein, Houellebecq verweist auf die Flasche Wein, die er getrunken hat, auf die vielen Medikamente gegen die Angst, die er nimmt, und bewegt sich also in Richtung einer Unzurechnungsfähigkeitsverteidigung. Dennoch möchte er gerne die Freundinnen oder Schauspielerinnen treffen, die der Amsterdamer Künstler in sein Schlafzimmer führt. In diesen Passagen klingt der weltberühmte Schriftsteller nun wie der Amateurrezensent einer Ferienanlage, der seinen ganzen Frust über das Frühstücksbuffet aufschreibt: Keine der Frauen hat ihn interessiert, erotisiert oder gerührt, es war alles ein Missverständnis, und Weihnachten war gelaufen. An Filmpassagen hat der Künstler nach dieser Schilderung nur etwas Herumgeknutsche im Doppelbett, aber genauer will man das gar nicht wissen. Auf den kaum 90 Seiten kommen Unmengen Eigennamen, Schauplätze und Zitate vor, bald ist man fassungslos darüber, wie sehr man zugleich wohlhabender, luzider Analytiker der Gegenwart sein kann und so völlig verloren. Und er tut einem – trotz seines Verhaltens, trotz seines Unvermögens, es zu erklären – fast leid.

Was ist im Frühjahr 2023, als ihm dämmert, dass so ein Vertrag nicht mal so eben aufgelöst werden kann, noch übrig von dem Mann, der unter der Sonne des vorausgegangenen Sommers gar nicht hart und böse genug austeilen konnte?

Houellebecq hat sich immer wieder mal zum Thema seiner Bücher gemacht – in dem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten «Karte und Gebiet» kommt ein Schriftsteller gleichen Namens vor, der sich zu Tode trinkt – und viele seiner Protagonisten tragen Züge, die zu seiner Biografie passen. Aber dieses Dokument ist eine einzige Klage, keine Inszenierung oder Skandalspekulation – über die Sucht der Medien nach Bildern von Prominenten, über die Einsamkeit und über die eigene Schwäche. Die Scham über diese Aufnahmen durchdringe nun sein Leben und Werk und ziehe vor die Möglichkeit des Glücks wie ein unheilvoller Nebel. Seine Feinde würden ihn auslachen, die anderen den Kopf schütteln. Scham, so unbedacht und leichtgläubig gewesen zu sein und über den eigenen Körper, der in einem fremden Hotelzimmer kurz vor Weihnachten ein, wie der Autor befürchtet, abstossendes Bild abgibt. Ausser seiner Ehefrau sind es nur zwei andere Personen, die ihm helfen möchten: der Schauspieler Gérard Depardieu und der Philosoph Bernard-Henri Lévy. Beide Freunde geben ihm denselben Rat: Über diese dumme Sache zu schreiben. Das Ergebnis des befolgten Freundschaftsrats ist dieses schmale Buch.


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