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Krieg tritt in neue Phase: «Ukraine übernimmt die strategische Initiative»

Immer mehr russische Truppen kämpfen im Süden des Landes. Hier stehen sie vor dem Kraftwerk bei Nowa Kachowka.

Immer mehr russische Truppen kämpfen im Süden des Landes. Hier stehen sie vor dem Kraftwerk bei Nowa Kachowka. Bild: keystone

Die Ukrainer künden seit Wochen lautstark eine Gegenoffensive im Süden an. Dahinter steckt taktisches Kalkül. Sie wollen, dass die Russen nach ihrer Pfeife tanzen.

Man muss fast mit einer Lupe auf die Karte der Ukraine schauen, um die aktuellen Gebietsgewinne der Russen zu erkennen. Im ganzen Monat Juli haben die Invasoren gerade mal 165 Quadratkilometer eingenommen. Das entspricht etwa der Grösse Liechtensteins. Ginge es im gleichen Tempo weiter, hätte Russland die Ukraine erst etwa im Jahr 2262 komplett erobert.

Over the month of July 🇷🇺 increased the area of land they control in Ukraine by approximately 165 km².

This equates to a total of ~19.4% of Ukraine being occupied. ~0.02% more than at the end of June. pic.twitter.com/4NPP8yvnG5

— Ukraine War Map (@War_Mapper) August 4, 2022

Somit hat sich der russische Vormarsch deutlich verlangsamt. Noch im Juni konnte Moskau einen Gebietsgewinn von 1500 Quadratkilometern verzeichnen.

Ein ziemlich bescheidenes Ergebnis für Wladimir Putin und seine Truppen. Zumal die 165 Quadratkilometer viel Blut und Material gefordert haben.

Gemäss ukrainischen Angaben, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, haben die Russen im Juli folgende Verluste erlitten:

Hinzu kommen Verluste bei Versorgungsfahrzeugen, Helikoptern und Flugabwehrsystemen.

Nehmen wir also die Lupe hervor und schauen uns an, wo die Russen gemäss den amerikanischen Forschern des «Institute for the Study of War» (ISW) etwas Boden gutmachen konnten:

karte: isw

Die russischen Erfolge beschränken sich momentan auf den Donbas, wo ab und an kleinere Ortschaften an die Besatzer fallen. Die wichtigen Städte wie Slowjansk, Kramatorsk oder Bachmut sind aber nach wie vor in den Händen der Ukrainer.

Jetzt verschieben die Russen Truppen in den Süden

Nun dürfte es für die Russen im Osten noch schwieriger werden. Denn sie sehen sich offenbar gezwungen, Truppen von dort abzuziehen und sie in den Süden des Landes zu bringen. Das ISW schreibt im Lagebericht vom 4. August:

«Die russischen Streitkräfte verlegen in zunehmendem Masse Personal und Ausrüstung in die Gebiete Cherson und Westsaporischschja auf Kosten ihrer Bemühungen um die Einnahme von Slowjansk und Siwersk, die sie anscheinend aufgegeben haben.»

Gemäss einer Daten-Analyse von Twitter-User «DefMon3» haben die Russen mittlerweile ein Drittel ihrer Kräfte um den Fluss Dnipro konzentriert.

🧵I have done a new assessment of force RuAF distribution along the active frontline. I have come up with up to 120 BTGs in total including PMC and pro-ru militants.

Troop distribution is still ongoing, so this will probably change.

Read the tweet at the end before commenting. pic.twitter.com/y9lPSFWtg7

— Def Mon (@DefMon3) August 5, 2022

Warum tun die Russen das? Sie reagieren mit den Truppenverschiebungen auf die ukrainischen Pläne für eine Gegenoffensive. Seit Wochen verkünden die Ukrainer, dass sie den Süden des Landes «befreien» wollen. Einzelne, kleinere Gegenoffensiven konnten die Ukrainer bereits durchführen, nun soll zunächst das Gebiet westlich des Flusses Dnipro zurückerobert werden.

Dort befindet sich die strategisch wichtige Stadt Cherson, die von den Russen ganz zu Beginn des Krieges eingenommen wurde. Indem sie die Truppen um Cherson und Saporischschja verstärken, wollen die Russen ihre Gebietsgewinne absichern.

Warum die Ukrainer im Süden kämpfen wollen

Auffallend ist, wie lautstark die Ukrainer die geplante Gegenoffensive im Süden kommuniziert haben. Sie haben fast schon danach gebettelt, dass die Russen ihre Kräfte in den Süden verlegen.

Warum tun die Ukrainer das? Vermutlich steckt dahinter taktisches Kalkül. Strategie-Experte Phillips P. O'Brien schreibt dazu auf Twitter:

«Sie wollen viele russische Truppen in Cherson, vor allem am Westufer des Dnipro, weil sie den Logistikfluss zu diesen Truppen einfach reduzieren können, indem sie die Brücken über den Fluss kappen.»

Tatsächlich haben die Russen Mühe mit dem Nachschub. Nach Cherson führen nur wenige Brücken und diese haben die Ukrainer in den vergangenen Wochen stark beschädigt. Schwere Waffen können nicht mehr – oder nur unter stark erschwerten Bedingungen – über den Fluss gebracht werden.

Es gibt zwei Strassenbrücken über den Dnipro, die von Russland kontrolliert werden. Bei Cherson und bei Nowa Kachowka. Das rote Gebiet ist von den Russen kontrolliert, das blaue Gebiet wurde von den Ukrainern zurückerobert. Die gestrichelten Gebiete in Cherson und Nowa Kachowka bedeuten Partisanen-Aktivitäten.

Es gibt zwei Strassenbrücken über den Dnipro, die von Russland kontrolliert werden. Bei Cherson und bei Nowa Kachowka. Das rote Gebiet ist von den Russen kontrolliert, das blaue Gebiet wurde von den Ukrainern zurückerobert. Die gestrichelten Gebiete in Cherson und Nowa Kachowka bedeuten Partisanen-Aktivitäten.bild: isw

Die Russen versuchen nun mittels Fähren oder provisorisch errichteten Brücken den Verkehr über den Dnipro aufrechtzuerhalten. Dies zeigen Satelliten-Daten und Aufnahmen aus der Region:

Imagery from 7 August confirms that there are at least *4* pontoon ferries active around Kherson in the #Dnipro and Konka rivers. All four were visible at the same time today. Some context. 🧵1/ pic.twitter.com/huVC8rSnOs

— Tim Ehrhart (@ArtisanalAPT) August 7, 2022

Waffenlieferungen sind auf diesem Weg jedoch hochriskant. Denn der Dnipro liegt innerhalb der Reichweite der ukrainischen Artillerie. Mit den Waffen aus dem Westen sind die Ukrainer in der Lage, Ansammlungen von Truppen und Material punktgenau zu vernichten.

Für die Ukrainer ist es zudem einfacher, im Süden zu operieren, als im Osten. Dort droht ihnen ständig die Einkesselung und die Russen sind näher an der Heimat, was den Nachschub erleichtert. In der Region Cherson seien die Vorzeichen umgekehrt, schreibt O'Brien. «Dort sind die russischen Truppen exponiert und unter Zugzwang, während die Ukrainer leichter aus ihrem Hinterland heraus operieren können.»

Die Folgen der Verlagerung

Es ist also davon auszugehen, dass sich das Kampfgeschehen in den kommenden Wochen immer mehr in den Süden verlagern wird. «Russlands Krieg gegen die Ukraine tritt jetzt in eine neue Phase ein, wobei sich die Kämpfe auf eine 350 Kilometer lange Front zwischen Saporischschja und Cherson entlang des Dnipro konzentrieren werden», konstatiert das britische Verteidigungsministerium.

Mit der Verlagerung der Kämpfe in den Süden hat sich ein wesentliches Element des laufenden Krieges verändert: Die Ukraine hat zum ersten Mal die Initiative ergriffen und entschieden, wo gekämpft wird. Das ISW schreibt dazu: «Die Ukraine übernimmt die strategische Initiative und zwingt die russische Armee, ihre Truppen neu aufzustellen.»

Die Ukrainer dürften moralisch gestärkt aus der Verlagerung des Kriegsgeschehens herausgehen. Sie haben die Russen auf dem falschen Fuss erwischt und haben das Kampfgebiet ausgewählt, das ihnen am besten passt.

Allerdings ist kaum zu erwarten, dass die Ukrainer nun mit gepanzerten Verbänden und viel Artillerie-Feuer in die Stadt Cherson eindringen werden. Im Gegensatz zu den Russen müssen sie bei ihrer Offensive vorsichtig vorgehen. Sie können nicht ganze Städte dem Erdboden gleichmachen, zumal dort die eigene Bevölkerung lebt.

Was die Ukrainer hingegen können: das Leben der Russen westlich des Dnipro schwer machen. So schwer, dass sie sich von selbst zurückziehen. Das ist ihnen während des laufenden Krieges bereits zwei Mal gelungen: vor Kiew und auf der Schlangeninsel.

Video zeigt, wie Russland ganze Städte dem Erdboden gleichmacht

Video: watson/Aya Baalbaki