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Historisches Urteil in Rorschach: «Juri Garawski taugt nicht zum Kronzeugen gegen das weissrussische Regime»

Historisches Urteil in Rorschach«Juri Garawski taugt nicht zum Kronzeugen gegen das weissrussische Regime»

Juri Garawski war Mitglied eines weissrussischen Spezialkommandos. Aber das Kreisgericht Rorschach glaubt ihm nicht, dass er am Verschwinden von drei Menschen beteiligt war.

Der Rorschacher Kreisgerichtspräsident Olav Humbel (hinten Mitte) verkündet das Urteil gegen Juri Garawski (vorne Mitte).

Der Rorschacher Kreisgerichtspräsident Olav Humbel (hinten Mitte) verkündet das Urteil gegen Juri Garawski (vorne Mitte).

Illustration: Robert Honegger

Freispruch für den 45-jährigen Weissrussen Juri Garawski. Ist das ein überraschendes Urteil? Nein, es war angesichts der aussergewöhnlichen Umstände eine reelle Möglichkeit. Das hat einerseits mit der Aussergewöhnlichkeit des Falles zu tun: dass ein mutmassliches ausländisches Staatsverbrechen im Mittelpunkt eines Schweizer Gerichtsverfahrens steht.

Es ist zum andern dem Umstand geschuldet, dass zum ersten Mal in der Schweiz, mutmasslich auch überhaupt auf europäischem Boden ein Mann wegen Verschwindenlassens vor Gericht stand. Verschwindenlassen ist in der Schweiz seit dem 1. Januar 2017 eine Straftat (Artikel 185bis) und darf verfolgt werden, selbst wenn der ausländische Täter die Tat im Ausland an einem Ausländer verübt hat.

Gericht folgte im Ergebnis der Verteidigerin

Das Kreisgericht Rorschach sprach Juri Garawski nicht nur vom Vorwurf des Verschwindenslassens frei, sondern auch vor Vorwurf der Irreführung der Justiz. Letzterer Tatvorwurf hätte bedeutet, dass Garawski eine Geschichte erzählt hätte, von der er wusste, dass sie nicht stimmt. Mit dem Urteil folgte das Kreisgericht im Ergebnis der Verteidigerin Vy Huyhn, wenn auch mit anderer Begründung.

Wie begründet das Kreisgericht den Freispruch? Auf einen kurzen Nenner gebracht: mit den widersprüchlichen Angaben, die Juri Garawski im Asylverfahren, im Strafverfahren und vor Gericht gemacht hat. Bei konkreten Nachfragen habe er sich teilweise herausgeredet oder falsche Übersetzung geltend gemacht. In einem Fall habe man ihm auch eine klare Lüge nachweisen können. «Das zeigt», sagte Gerichtspräsident Olav Humbel, «dass er die Fähigkeit hat, Geschichte zu erfinden.»

Vernünftige Zweifel an den Schilderungen blieben

Das Gericht hielt es für durchaus wahrscheinlich, dass der heute 45-Jährige damals als gut 20-Jähriger Mitglied des staatlichen Killerkommandos war. Es sei aber «unklar», ob er beim Verschwinden der drei Oppositionellen tatsächlich dabei gewesen sei. Möglich sei auch, dass er Details aus Erzählungen von Kameraden kenne.

Es sei nicht Aufgabe des Gerichts gewesen, das Verschwinden der drei Menschen abzuklären, sondern nur festzustellen, ob im Zusammenhang mit Garawskis Schilderungen jeder vernünftige Zweifel ausgeschlossen werden kann. Das können man nicht. Juri Garawski «taugt nicht zum Kronzeugen gegen das weissrussische Regime».

Verteidigerin mit dem Urteil zufrieden

Das Kreisgericht ging auch auf den Straftatbestand «Verschwindenlassen» im Schweizer Strafgesetzbuch ein. Es zitierte kritische Stimmen, die den Straftatbstand aufgrund seiner Unklarheit und Unbestimmtheit für nicht anwendbar halten. Nicht nur aus subjektiver, sondern auch aus objektiver Sicht sei Garawski freizusprechen.

Ein Geständnis führte zum Strafverfahren

Juri Garawski hatte im Asyl- und Strafverfahren im Wesentlichen behauptet, dabei gewesen zu sein, als im Jahre 1999 ein Killerkommando drei Oppositionspolitiker in Weissrussland entführte und tötete – darunter den früheren Innenminister Juri Sacharenko und den ehemaligen stellvertretenden Premierminister Wiktor Gontschar.

Für die Eröffnung des Strafverfahrens sorgte Garawski selber. Denn nachdem sein Asylgesuch abgelehnt worden war, wandte er sich via den Auslandrundfunk Deutsche Welle an die Öffentlichkeit. Daraufhin reichte die Genfer Nichtregierungsorganisation Trail International eine Strafanzeige ein. Die Organisation kämpft gegen die Straflosigkeit bei internationalen Verbrechen.

Staatsanwaltschaft und Verteidigung zogen unterschiedliche Schlüsse

Das Kreisgericht Rorschach, dem neben Präsident Olav Humbel ein Apotheker und ein Kantonspolizist als Laienrichter angehörten, hatte im Wesentlichen nur eine Frage zu klären: Hat Garawski die Wahrheit gesagt? Denn das Gericht konnte ihn wegen Verschwindenlassens nur verurteilen, wenn es überzeugt war, dass der damals gut 20-Jährige tatsächlich dabei war, als den drei Oppositionspolitikern, wie es das Gesetz verlangt, die Freiheit und der Schutz des Gesetzes entzogen wurden. Und wenn in der Folge über ihr Schicksal oder ihren Verbleib jede Auskunft verweigert wurde.

Staatsanwalt Peter Hangartner und Verteidigerin Vy Huynh waren an der Hauptverhandlung in der vergangenen Woche von den Schilderungen des Mannes überzeugt. Sie zogen daraus aber unterschiedliche Schlüsse. Während Hangartner in der Hauptsache eine teilbedingte Freiheitsstrafe von 36 Monaten beantragte, verlangte Huynh einen Freispruch, weil die Straftat Verschwindenlassen bereits im Jahr 2016 verjährt sei.

Thomas Hasler ist Gerichtsreporter im Ressort Zürich Politik & Wirtschaft. Der promovierte Politologe und Master in Angewandter Ethik, seit 1986 beim «Tages-Anzeiger», ist auch Dozent an der Journalistenschule MAZ, Lehrbeauftragter an der Schweizerischen Richter-Akademie und gelegentlich Referent im Bereich Strafprozessrecht.Mehr Infos@thas_on_air

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