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Analyse über Kaderfrauen mit Baby: Ihr Burn-out-Bekenntnis zeigt, wie stark sich die Arbeitswelt ändern muss

Analyse über Kaderfrauen mit BabyIhr Burn-out-Bekenntnis zeigt, wie stark sich die Arbeitswelt ändern muss

Auf sozialen Medien sorgt ein Beitrag über das Scheitern einer Schweizer Kaderfrau mit Baby für Aufsehen. Das heizt die Diskussion um Arbeitszeitkonzepte an.

Schlafstörungen, Panikattacken, chronische Rücken- und Schulterschmerzen: Julia Panknin mit Tochter. 

Schlafstörungen, Panikattacken, chronische Rücken- und Schulterschmerzen: Julia Panknin mit Tochter. 

Foto: PD

Auf der Onlineplattform Linkedin bewegen sich vor allem Menschen mit Karriereinteresse. Wenn dort eine Frau zugibt, dass die Leistungsansprüche an junge Mütter zu hoch sind und sie mit ihrer Stabsstelle im Burn-out gelandet ist, ist das etwas Besonderes. Noch mehr aufhorchen lässt, wenn ein mit Hashtags wie #KindundKarriere, #Panikattacken, #Schlafstörungen versehener Beitrag in kürzester Zeit über 700-mal geliked wird, wie dies in den vergangenen Tagen geschehen ist.

«Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, wartete stets die zweite Schicht als Mama auf mich», schreibt Julia Panknin, die bis zu ihrer Kündigung im Mai 2022 Strategiechefin bei «20 Minuten» war, die wie diese Zeitung zur TX Group gehört. Sie habe das Gefühl gehabt, nichts ändern und nicht darüber sprechen zu können – aus Angst, als Versagerin dazustehen. 

Persönliche Geschichten von Frauen, die mit dem Baby unterm Arm ihre Karriere erst mal weiterziehen und dann aufgeben, erregen Aufsehen. Und sie zeigen ein strukturelles Problem auf. So auch der Rücktritt der «Annabelle»-Chefredaktorin in diesem Frühling: «Du stehst drei-, viermal pro Nacht auf und bist wie ein Zombie. Trotzdem wird zu Recht absolute Professionalität und Verantwortung erwartet», sagte Jacqueline Krause-Blouin.

Was bei der Gleichstellungsdebatte in der Schweiz bislang nie richtig Thema war: Karriere muss auch für Frauen mit kleinen Kindern möglich sein. Familie ist nämlich nicht nur Hobby (so wie dies Männer bis vor kurzem oft angaben). Familie ist Arbeit. Auch für diejenigen, die sich Nannys, Haushaltshilfen oder Kitas leisten können. Sie allein lösen das Problem der Vereinbarkeit von Karriere und kleinem Kind nicht. 

Die Ansprüche an Menschen in der Arbeitswelt müssen sich grundsätzlich ändern. Darauf weist Panknin in ihrem Linkedin-Beitrag hin – und das hebt die Debatte auf eine allgemeinere Ebene, weg vom vermeintlich persönlichen zum gesellschaftlichen Versagen. 

Neue Zeitbalance

Die feministische Debatte geht über die Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Erwerbsleben, wie wir es bislang kennen, hinaus. Es geht um die Art, wie wir Arbeit denken. 

Die deutsche Publizistin Teresa Bücker will die Erwerbs- mit der Fürsorgearbeit gleichstellen. Neu ist das nicht: Feministische Ökonominnen wie Mascha Madörin verlangen das schon seit langem. Bücker aber fordert nicht wie Madörin eine Bezahlung der Betreuungsarbeit. In ihrem vergangenes Jahr erschienenen Buch «Alle Zeit» schlägt Bücker ein anderes Zeitmodell vor. Die Zeit im Job soll grundsätzlich unter dreissig Stunden pro Woche liegen, auch bei einer 100-Prozent-Stelle – bei vollem Lohn. Dadurch würde automatisch Zeit für Kinderbetreuung wie auch Erholung frei. Und zwar für alle: für Karrierefrauen und -männer genauso wie für einfache Angestellte. 

Dieses neue Zeitmodell, das Job, Familie und Freizeit gleichmässiger gewichtet, setzt sich in der Schweiz gerade durch – wenn auch ohne vollen Lohnausgleich und vor allem bei Gutverdienenden. Wer zurzeit seine Stunden senken will und auf den entsprechenden Lohn verzichten kann, arbeitet Teilzeit. Schweizer Firmen sind hier wegen des Fachkräftemangels inzwischen flexibler geworden. 

Boris Zürcher, beim Staatssekretariat für Wirtschaft für den Schweizer Arbeitsmarkt zuständig, erklärte unlängst in einem Interview mit dieser Redaktion: «Dank Teilzeit haben wir mehr Frauen im Arbeitsmarkt. Sonst hätten wir sie nicht.» Aber auch Männer senken ihr Pensum. Ein Drittel der Erwerbstätigen in der Schweiz arbeitet teilzeitlich. Der durchschnittliche Arbeitseinsatz pro Person nimmt laut Zürcher laufend ab. 

Mit Teilzeit-Kaderstellen hätten Karrieremänner keinen Grund mehr, sich der Familienarbeit zu entziehen. 

In wenigen Jahren dürfte dies dahin führen, dass auch Kaderstellen teilzeitlich organisiert werden. Dann werden Karrierefrauen mit kleinen Kindern nicht mehr ins Burn-out oder in den Rücktritt getrieben. Und Karrieremänner hätten keinen Grund mehr, sich der Familienarbeit zu entziehen. 

So wie das Arbeitsverständnis könnte sich jedoch auch das Verständnis von Familie ändern. Auch darauf weist Bücker in ihren Essays wie «Unlearn Familie» hin: Vater, Mutter, Kind(er) sind nur eine von vielen Möglichkeiten.

Es gibt andere Modelle wie Wohngemeinschaften von Alleinerziehenden, Patchwork, Regenbogenfamilien oder verschiedene Arten von Gross- und Mehrgenerationengemeinschaften. Dafür braucht es allerdings grössere und andere Wohnungen. Auch hier müssen wir also die Rahmenbedingungen überdenken. Die Wirtschaft sollte auch hieran ein Interesse haben, denn letztlich könnten auch so Betreuungsarbeit und Erwerbstätigkeit anders aufgeteilt werden. 

Isabel Strassheim ist seit 2019 Wirtschaftsredaktorin bei Tamedia. Sie berichtet aus Basel vor allem über die Pharma- und Chemiebranche. Mehr Infos

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