Schweizer Autor Charles Ferdinand Ramuz: Was tun, wenn man nur noch Tage zu leben hat?

Schweizer Autor Charles Ferdinand RamuzWas tun, wenn man nur noch Tage zu leben hat?  

Vor 100 Jahren schrieb Charles Ferdinand Ramuz einen Roman, in dem die Erde in die Sonne stürzt. Erstmals erscheint er auf Deutsch – vermarktet als Klimaroman. Dabei hat das Buch ganz andere Qualitäten.

Charles Ferdinand Ramuz bei sich daheim.

Foto: LMD

Der Juli 1921 war sehr heiss am Genfer See, das Quecksilber stieg bis auf 38,3 Grad. Die ungewöhnliche Hitze inspirierte Charles Ferdinand Ramuz zu einer literarischen Fantasie: Was wäre, wenn die Erde aus der Bahn geriete und auf die Sonne zustürzte? Alles Leben würde in kurzer Zeit verglühen. Der Schweizer Autor französischer Sprache erweist sich in seinem kurzen Roman als Apokalyptiker wie sein deutschsprachiger Kollege Dürrenmatt, der einen Zug in einem Tunnel immer tiefer in die Erde fallen lässt.

«Présence de la mort» erschien erstmals 1922 und wurde später in die zweibändige Ausgabe seiner Romane in der «Bibliothèque de la Pléiade» aufgenommen, eine Ehre, die Ramuz als erstem Autor der Romandie widerfuhr. Ins Deutsche übersetzt worden ist das Buch aber erstaunlicherweise erst jetzt – unter dem Titel «Sturz in die Sonne». Verlag und Medien preisen es als «prophetischen Klima-Roman», als «brandaktuell» und «am Puls der Zeit».

Die Menschen sterben wie die Fliegen

Das ist plakativer Unsinn. «Unser» Klimawandel ist menschengemacht, vollzieht sich schleichend – was es leider so leicht macht, ihn zu leugnen –, und wir können, wenn auch mit einer schier unmenschlichen Anstrengung, immerhin auf ihn reagieren, um das Schlimmste zu verhindern. Bei Ramuz stürzt die Erde durch einen «Unfall im Gravitationssystem» der Sonne entgegen, die Temperatur steigt täglich, die Menschen sterben wie die Fliegen, das Ende kommt schnell und unabwendbar.

Wie verhalten sich die Menschen, wenn der Tod nur noch Tage entfernt ist? Das interessiert Ramuz. In 30 Szenen zeigt er tableauartig, wie die einen versuchen zu verdrängen – die Nachricht kommt ja aus den USA, «die lügen» – und wie die anderen ihren gewohnten Geschäften nachgehen, wieder andere sich Ausschweifungen oder Revolten hingeben: Sie zahlen nicht mehr beim Wirt, schlagen alles kurz und klein, plündern, bauen Barrikaden, verschanzen und beschiessen sich dorfweise.

Szenen, die ein Brueghel hätte malen können

Der Tod trifft alle gleichermassen, aber jeden für sich, auch Liebende bleiben allein. Ein Mann erschiesst sich aus Angst vor dem Sterben, ein anderer zieht endlich Frauenkleider an und wird von den Nachbarn erwürgt. Einige wollen per Schiff in den äussersten Norden fliehen, vergebens; andere steigen die Berge hoch, aber die Hitze folgt ihnen.

Es sind Szenen, wie sie ein Bosch oder Brueghel hätte malen können; Ramuz, der Wortkünstler, kann es ganz ohne Pinsel und Leinwand. Aber genau die wählt er als Metapher für sein poetisches Anliegen. Denn in all dem Untergangschaos behält einer die Ruhe: ein Schriftsteller, der noch einmal die Herrlichkeit der Schöpfung, die Schönheit der waadtländischen Landschaft betrachtet. Er begreift sie als geschaffene Schönheit, als Kunstwerk Gottes, und seine Aufgabe als die, diese untergehende Schöpfung nachzuschaffen, aufzuheben in seinem Werk.

«Sturz in die Sonne» ist nicht nur eine wortmächtige Hommage an die heimatliche Landschaft und ihre Menschen, die im Moment des Untergangs noch einmal mächtig aufglühen, es ist eben auch eine Meditation über Macht und Bestimmung des Künstlers.

«O vous, pays qui êtes peints, mais qui serez dépeints, alors je cherche vite à vous peindre à nouveau.» Kaum möglich, dass Ramuz hier «dépeindre» (schildern, abmalen) nicht bewusst als Wortspiel eingesetzt hat, also als «ent-malen» (wofür dem ansonsten guten Übersetzer nur «verblassende Farbe» eingefallen ist).

«Sturz in die Sonne» ist nicht nur eine wortmächtige Hommage an die heimatliche Landschaft und ihre Menschen, die im Moment des Untergangs noch einmal mächtig aufglühen, es ist eben auch eine Meditation über Macht und Bestimmung des Künstlers. Diese besteht für Ramuz in der Kraft zur Verwandlung und damit zur Rettung. Auch einige Menschen werden am Ende des Romans gerettet; aber nicht durch eine erneute Umkehrung der Erdbahn, sondern eine Art Transfiguration. Sie treten in eine neue Existenzform ein, mit neuen Körpern, neuen Augen und einem Erstaunen, das der Autor nur mit einer Folge paradoxer Sätze ausdrücken kann.

Ramuz’ «barbarischer» Stil wirkt heute lyrisch und gesanglich

Die entscheidende Verwandlung vollzieht Ramuz aber sprachlich: vom Geschehen in die Schrift. Zeitgenössische Kritiker, vor allem aus Frankreich, warfen ihm einen «barbarischen» Stil vor; denn Ramuz bemühte sich, dem mündlichen Verkehr der Menschen des Vaud nahezukommen; so wählt er etwa oft das «passé composé» anstelle des literarischen «passé simple».

Heute, wo die französische Sprache durch die Werke von Céline oder Queneau gegangen ist und auch Wellen des Argot aufgenommen hat, erscheint uns Ramuz’ Prosa ganz anders: lyrisch und deklamatorisch, oratorisch und gesanglich. Sie lebt von Rhythmus- und Klangeffekten, von kurzen Sätzen, die manchmal stehen bleiben, manchmal schlicht sind wie hingesprochen, dann wieder kunstvoll gestaltet bis hin zum Alexandriner, dem edlen Vers der französischen Klassik.  

«Sturz in die Sonne» ist eine bedeutende Entdeckung für den deutschschweizerischen Sprachraum, ganz unabhängig von der Vermarktung als «prophetischer Klimaroman». Die Übersetzung von Steven Wyss ist raffiniert genug, die Verstösse des Autors gegen das literarische Standard-Französisch bisweilen «verschoben» wiederzugeben, also an einer geeigneteren als der originalen Stelle oder mit anderen Mitteln.

Gelegentlich verfehlt er eine Nuance, und einmal schlägt auch hier die Political Correctness zu. In einer Hotelszene tritt ein schwarzer Trommler auf. Bei Ramuz steht: «Le nègre rit avec toutes ses belles dents blanches». Auf Deutsch heisst es kurz: «Der Trommler ist begeistert bei der Sache.» So verliert der Musiker nicht nur die Hautfarbe, sondern auch noch seine «schönen weissen Zähne»!

Charles Ferdinand Ramuz: Sturz in die Sonne. Roman. Aus dem Französischen von Steven Wyss. Limmat, Zürich 2023. 192 S., ca. 32 Fr.

Martin Ebel, nach seiner Pensionierung Mitarbeiter im Ressort Leben, langjähriger Literaturredaktor, schreibt seit über 30 Jahren über Schweizer und Internationale Literatur, Sprachfragen, kulturhistorische und zeitkritische Themen. Mitglied diverser Jurys und der Kritikerrunde im «Literaturclub» von SRF. Mehr Infos

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