Interview nach Precht-Skandal – «55 Prozent der ultraorthodoxen Männer sind arbeitstätig – und 80 Prozent der Frauen»
Religionshistoriker Alfred Bodenheimer schildert die Realität ultraorthodoxer Juden, auch in der Schweiz, und räumt mit Stereotypen auf, wie sie Richard David Precht bediente.
Kinder und Erwachsene feiern im Stadtviertel Wiedikon in Zürich das Purimfest, das an eine Errettung des jüdischen Volkes aus drohender Gefahr erinnert.
Foto: Ennio Leanza (Keystone)
Der umtriebige Fernseh-Philosoph Richard David Precht ist jüngst mit sofortiger Wirkung von seiner Honorarprofessur in Lüneburg zurückgetreten, wie es zuvor vom dortigen Studierenden-Parlament gefordert worden war. Im Rahmen des ZDF-Podcasts «Lanz und Precht» hatte er behauptet, ihre Religion verbiete orthodoxen Juden, zu arbeiten, «ein paar Sachen, wie Diamantenhandel und ein paar Finanzgeschäfte, ausgenommen».
Für diese Falschaussage samt antisemitischer Topoi wurde Precht scharf kritisiert, die Stelle wurde aus dem Podcast gelöscht, er entschuldigte sich.
Aber wie verhält sich die Sache wirklich, und woher kommen unsere Vorurteile? Und wie leben ultraorthodoxe Juden in der Schweiz? Antworten hat Alfred Bodenheimer, Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel.
Herr Bodenheimer, welche Arbeitsverbote gibt es gemäss orthodoxen Regeln?
Faktisch gibt es so gut wie keine Arbeitsverbote. Verboten ist das Verrichten von Arbeiten am Schabbat und an einer Reihe von Feiertagen, ausgenommen bei Tätigkeiten wie Ärztin oder Ambulanzfahrer, deren Arbeit Leben rettet. Dazu ist auch der gewerbsmässige Handel mit für Jüdinnen und Juden verbotenen Speisen, also zum Beispiel nicht koscherem Fleisch, verboten. Ansonsten sind eigentlich alle Tätigkeiten erlaubt.
Gilt die Forderung, sich den religiösen Studien und dem Dienst an der Gemeinschaft zu widmen, für 100 Prozent der Zeit? Gibt es sie in der Tora?
Es gibt im Buch Josua die Aufforderung, die Worte der Tora «Tag und Nacht» zu lernen. Doch bereits im Talmud gibt es lebhafte Diskussionen darüber, was das für die Praxis bedeuten soll. Faktisch hat immer nur eine ganz kleine Gruppe von Juden dies getan. In der Vergangenheit handelte es dabei oft um besonders talentierte Studenten, die dafür eine Finanzierung durch Stipendien bekamen oder etwa von ihren Schwiegereltern finanziert wurden.
Stimmt es, dass in Israel rund 70 Prozent der ultraorthodoxen Männer nicht arbeiten? Ernähren die Ehefrauen die Familie mit Erwerbsarbeit?
Gemäss den mir bekannten Angaben sind rund 55 Prozent der Männer zwischen 25 und 64 Jahren, die dem ultraorthodoxen Segment zugeordnet werden, arbeitstätig, Tendenz steigend. Bei den Frauen liegt der Erwerbsanteil bei rund 80 Prozent, höher als im Gesamtdurchschnitt der Bevölkerung. Das Problem liegt, wie ich kürzlich einen Experten für die wirtschaftliche Situation der charedischen Bevölkerung habe erklären hören, eher darin, dass die Berufsqualifikation in dieser Gruppe aufgrund fehlender profaner Bildung oft gering ist, sodass sie relativ schlecht bezahlte Tätigkeiten ausüben. Die Armut unter der ultraorthodoxen Bevölkerung in Israel liegt bei circa 50 Prozent.
Wie ist das in der Schweiz?
Für die Schweiz habe ich keine Zahlen vorliegen. Sicher ist, dass der Anteil von ultraorthodoxen Männern, die arbeiten, in der Schweiz weit höher ist; Institutionen wie die mit kleinen Stipendien ausgestatteten Institutionen zum ausschliesslichen Torastudium für erwachsene Männer (Kollel) gibt es in der Schweiz nur in minimem Umfang. Allerdings darf die finanzielle Belastung dieser Familien nicht unterschätzt werden. Religiöse Privatschulen (für oft kinderreiche Familien), koscheres Essen und zentrale städtische Wohnlage (in Gehdistanz zu den Synagogen) und die insgesamt hohen Lebenskosten in der Schweiz stellen grosse Herausforderungen dar, die viele Familien ebenfalls in finanzielle Bedrängnis bringen.
Wie viele Ultraorthodoxe gibt es ungefähr in der Schweiz?
Ich kenne keine Zahlen, man kann von einer eher niedrigen vierstelligen Zahl ausgehen.
«Die Zahl von Ultraorthodoxen, die ein Gymnasium besuchen, ist relativ gering.»
Stimmt es, dass schweizerische Ultraorthodoxe oft keine Lehre machen und nicht das Gymnasium besuchen dürfen?
Das kommt sehr auf die Familie an, in der sie aufwachsen. Tatsächlich ist die Zahl von Ultraorthodoxen, die ein Gymnasium besuchen, relativ gering. Viele Familien schicken ihre Söhne nach der Schulpflicht ins Ausland in Talmudhochschulen, dann entfällt eine Lehre. Es gibt aber in diesen Hochschulen etwa in Israel zuweilen auch die Möglichkeit, eine lokale Matur zu machen. Zuweilen machen ultraorthodoxe junge Menschen dann auch noch einen Handelsabschluss oder Ähnliches.
Das mittelalterliche, antisemitische Zunftverbot für jüdische Mitbürger hat dazu geführt, dass sie – fast – nur als Geldverleiher (und Juweliere?) tätig sein konnten. Was ihnen zynischerweise wiederum zum Vorwurf gemacht wurde. Korrekt?
Ja, aufgrund eines innerkirchlichen Zinsverbots einerseits und weitgehender Berufs- oder Landbesitzverbote für Juden andererseits wurden diese im Mittelalter oft in den Geldverleih gedrängt. Damit konnte die Kirche einerseits diesen ihrer Meinung nach schändlichen Beruf «outsourcen» und zugleich die Juden moralisch isolieren. Es ist übrigens interessant, dass im Spätmittelalter in Europa die Juden als Geldhändler weitgehend von den Lombarden abgelöst wurden. Dennoch hat sich nirgends das Vorurteil erhalten, dass Norditaliener besonders geldgierig oder reich seien. Es ist also nicht primär die damalige Tätigkeit, es ist der Transport eines Vorurteils gegen eine Randgruppe, was diese üble Reputation der Juden begründet hat.
Worin unterscheiden sich Orthodoxe und Ultraorthodoxe? Ist es so, dass erstere den Staat Israel anerkennen und Wehrdienst leisten und letztere nicht?
Das ist eine etwas holzschnittartige Unterscheidung – insofern sie sich überhaupt machen lässt, denn es gibt hier keine fest abgegrenzten Denominationen. Ursprünglich stand das ultraorthodoxe Judentum (anders als andere religiöse Strömungen) dem Staat reservierter gegenüber; die Nichtanerkennung betrifft nur einen wirklich kleinen Teil davon. Heute sind die Ultraorthodoxen in vielerlei Hinsicht stark mit Israel verbunden. Ein grosser Kritikpunkt bestand immer darin, dass die ultraorthodoxen Männer dort grösstenteils keinen Militärdienst oder Zivildienst leisten. In der gegenwärtigen Krise haben sich 2000 ultraorthodoxe Männer freiwillig beim Militär gemeldet, um ausgebildet und eingesetzt zu werden, viele mehr leisten Freiwilligenarbeit, um die Gesellschaft vor dem Kollaps zu bewahren. Es kann sein, dass aus dieser Krise neue Identifikationsmuster entstehen.
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