Historische Wahlpanne: Das Bundesamt für Rechenfehler

Historische WahlpanneDas Bundesamt für Rechenfehler

Das Bundesamt für Statistik rechnet die Stärken der Parteien falsch und verändert damit die ganze Erzählung dieser Wahlen. Was sind die politischen Folgen? Und: Wer ist schuld?

Sein Bundesamt für Statistik hat die Parteistärken falsch berechnet: Der Direktor des BFS, Georges-Simon Ulrich.

Foto: Peter Klaunzer (Keystone)

Es ist der Mittwoch nach den Wahlen – und plötzlich ist alles anders. Bei Schweizer Wahlen geht es um die Zahlen nach dem Komma. Um halbe Prozentpunkte. Manchmal um ganze. Die Veränderungen hinter dem Komma stehen für die Stabilität unseres Systems, für den Konsens, für die Konkordanz. 

Wenn die Zahlen denn stimmen. 

Ins kleine Konferenzzimmer des Bundesmedienzentrums in Bern drängen sich mehr Journalistinnen und Journalisten, als es Stühle hat. Vorne sitzen drei Männer und eine Frau des Bundesamts für Statistik. «Die geballte Kompetenz», sagt der Mediensprecher und macht eine kleine, kunstvolle Pause, «im Erklären, was schiefgelaufen ist.» (Statistiker-Humor?)

Ein menschlicher Fehler

Und schiefgelaufen ist einiges. Das Bundesamt für Statistik (BFS) hat am Wahlsonntag die Parteienstärken falsch berechnet. Entdeckt wurde der Fehler am Dienstag, die Korrektur folgte am Mittwochnachmittag. Schuld daran: eine fehlerhafte Programmierung, ein «menschlicher Fehler», sagt Georges-Simon Ulrich im Konferenzzimmer, der Direktor des BFS. (Unser Kommentar: Das Debakel muss Folgen haben)

Die Kantone Glarus, Appenzell Innerrhoden und Appenzell Ausserrhoden liefern die Daten ihrer Nationalratswahlen in einem anderen Format nach Bern als die anderen Kantone, weil sie nur einen Sitz besetzen.

Um diese Daten in die Berechnung der nationalen Parteienstärken einfliessen zu lassen, wurde im BFS ein neues Programm geschrieben. In diesem Programm war ein Fehler – und die Zahlen aus den drei Kantonen wurden mehrfach in die nationalen Parteienstärken eingerechnet. Bei mindestens einem Kanton wurden die Stimmen fünffach gezählt. Die Folge: SVP und Mitte und FDP wurden zu gut ausgewiesen, alle anderen zu schlecht. (Lesen Sie das Interview mit dem Statistiker: Warum um alles in der Welt fällt das niemandem auf?)

Das neue Programm habe man zwar getestet, hiess es an der Medienorientierung. «Aber zu wenig oft», sagte Madeleine Schneider vom BFS. Auch wurde es offenbar unterlassen, das zum ersten Mal im Einsatz stehende Script mit Zahlen früherer Wahlen zu überprüfen. Als der Fehler entdeckt wurde, habe man die Wähleranteile nach der alten Methode berechnet und dreimal nachgeprüft. «Wir gehen davon aus, dass wir nicht noch einen Fehler kommunizieren müssen.»

«Wir publizieren jedes Jahr Hunderte Statistiken.» 

Georges-Simon Ulrich, Direktor des Bundesamts für Statistik

Um solche Fehler künftig zu vermeiden, sollen automatisierte Plausibilitätsprüfungen und mehr Kontrollen eingeführt werden. Zudem hat Bundesrat Alain Berset, dem das BFS unterstellt ist, eine Administrativuntersuchung eingeleitet. Sehr zerknirscht wirken die Verantwortlichen des Bundesamts im Konferenzsaal nicht unbedingt. Man müsse diesen Fehler in einem grösseren Kontext sehen, sagt BFS-Direktor Ulrich. Natürlich sei dieser Fehler nicht entschuldbar und man übernehme dafür die Verantwortung. Aber: «Wir publizieren jedes Jahr Hunderte Statistiken.» 

Selbst wenn der Rechenfehler keine Auswirkungen auf die Verteilung der Mandate hat, müssen diese Wahlen nun noch einmal neu erzählt werden. Der Wahlsieg der SVP ist weniger gross als am Sonntag. Die FDP verliert zwar – bleibt bei der Wählerstärke aber knapp vor der Mitte (14,3 Prozent zu 14,1 Prozent). Die SP gewinnt etwas mehr, die Grünen verlieren etwas weniger. «Insgesamt war die Veränderung zu den Wahlen von 2019 viel kleiner als gedacht», sagt SP-Co-Präsident Cédric Wermuth. Die SP habe jetzt zwei Drittel der Verluste von vor vier Jahren wettgemacht. «Damit können wir mehr als zufrieden sein.»

Bitter für Mitte und FDP

Besonders bitter ist der Rechenfehler für Gerhard Pfister und seine Mitte-Partei, die in den vergangenen Tagen als die geheimen Wahlsieger gefeiert wurden – mit Aussicht auf den irgendwann frei werdenden Sitz der FDP. Und bitter war es auch für Thierry Burkart und seinen Freisinn, der sich jetzt drei Tage lang anhören musste (auch von dieser Zeitung), er habe eine historische Niederlage zu verantworten, weil die FDP hinter die ehemalige CVP zurückgefallen sei. Die Niederlage der FDP gegen die CVP trifft nun nur noch bei den National- und den Ständeratssitzen zu, aber nicht beim Wähleranteil.

«Was will man machen. Es bleibt ein Erfolg für unsere Partei. Wir haben das Fusionsresultat bestätigen können», sagt Gerhard Pfister. «Falls das BFS nicht zweimal falsch gerechnet hat.» 

Thierry Burkart war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Dafür nimmt FDP-Vizepräsident Andrea Caroni das Telefonat auf einer Parlamentsreise an, es rauscht im Hörer, er ist im angolanischen Parlament: «Das ist kolossal daneben. Normalerweise können wir bei Auslandreisen immer stolz von unserem Schweizer System berichten, in dem alles funktioniert.» Heute könne er das nicht behaupten. «Die einzige Zahl, die alle vier Jahre wirklich interessiert in unserem Land, ist der Wähleranteil. Da darf einfach kein Fehler passieren.»

Gleichzeitig empfindet er auch Freude und eine gewisse Genugtuung, dass seine Partei weiterhin auf Platz 3 liegt – vor der Mitte. «Wir haben schon in den letzten drei Tagen gesagt, die Zusammensetzung des Bundesrats sei kein Thema. Man hätte uns historische Häme ersparen können, wenn das BFS seine Arbeit richtig machen würde.»

«Es sagt ja niemand, die Wahlen seien gefälscht worden.»

FDP-Vizepräsident Andrea Caroni

Zum BFS sagt Caroni: «Augen auf bei der Berufswahl.» Die Verantwortung sieht er aber auch beim zuständigen Bundesrat Alain Berset. Der Innenminister hätte bei einem neuen Zählungsverfahren genauere Prüfmethoden von seinen Leuten verlangen müssen. 

Hinsichtlich der Bedeutung für die Demokratie relativiert der FDP-Vizepräsident allerdings: «Es sagt ja niemand, die Wahlen seien gefälscht worden.» Die Wahl sei fair und frei abgelaufen, die Kantone hätten die Resultate richtig gemeldet, der Fehler habe einzig beim BFS gelegen.

Kein Problem für die Demokratie sieht auch Jürg Grossen, Präsident der GLP: «Dass das BFS die Zahlen nachgeprüft und angepasst hat, zeigt ja, dass es ein Korrektiv gibt.» Natürlich dürfe dies nicht passieren. «Es hätte einen doppelten Boden gebraucht, eine zusätzliche Kontrolle der Resultate.» Aber: «Wo gearbeitet wird, passieren Fehler. Vor allem, wenn es schnell gehen muss.» Das neue Resultat zeigt, dass die GLP mit nur –0,2 Prozentpunkten 6 ihrer 16 Sitze im Parlament verloren hat. «Das ist für uns noch viel bitterer.» Das heutige Wahlsystem sei nicht repräsentativ.

Grüne atmen ein wenig auf

Für die Grünen sieht der Verlust nun weniger schlimm aus als am Sonntag. «Wir stehen nun mit einem etwas geraderen Rücken da», sagt Parteipräsident Balthasar Glättli. Wenn man in einem Umfeld, das zu wesentlichen Teilen von Gegenwind geprägt war, fast 10 Prozent erreiche, dann sei das beträchtlich. «Offenbar haben wir doch einen recht stabilen Sockel.»

Der Fehler sei «vor allem peinlich», sagt Peter Keller, Generalsekretär der SVP Schweiz. Aber es sei auch ein folgenreicher Fehler. «Die halbe Schweiz hat nun drei Tage lang Häme und alles Üble über die FDP und deren Präsidenten Thierry Burkart ausgeschüttet.» Natürlich gebe es nun eine Korrektur der Zahlen, doch ein Teil der ursprünglichen Erzählung bleibe halt immer haften. «Das ist niemandem zu gönnen», sagt Keller.

«In vier Jahren wird es sehr schwierig werden, sich am Wahlsonntag auf die Zahlen des BFS zu berufen.»

Gerhard Pfister, Präsident der Mitte-Partei

Konsterniert sind auch die Präsidenten der Staatspolitischen Kommissionen. «So etwas darf nicht passieren», sagt Marco Romano (Mitte), der Präsident der nationalrätlichen Kommission. Die ganze Sache sei «extrem peinlich», und die Erklärungen des BFS seien nicht ausreichend. Wenn es zutreffe, dass das Programm ungenügend getestet worden sei, wäre das ein grober Fehler. Die Staatspolitische Kommission wird laut Romano voraussichtlich die Verantwortlichen anhören.

Auch für Gerhard Pfister ist der staatspolitische Schaden enorm. «Sie hatten genau einen Job. In vier Jahren wird es dann sehr schwierig werden, am Wahlsonntag im Fernsehen zu stehen und sich auf die Zahlen des BFS zu berufen.»

Wie gross der Vertrauensverlust sei, wurde auch BFS-Direktor Georges-Simon Ulrich gefragt. Er wollte zuerst nicht richtig antworten und sagte dann: «Ich habe Vertrauen auf das Vertrauen.»

Was immer das auch heissen mag. 

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