Kommentar zu Berg-Karabach – Was von Armenien bleibt
Der kurze Krieg um die Region Berg-Karabach wird noch nicht das Ende gewesen sein. Denn Aserbaidschan verfolgt weitergehende Ziele – selbstverständlich ganz im Sinne der Türkei.
Die Karabach-Armenier fliehen aus Angst vor Pogromen: Zehn Tage nach dem Sieg der aserbaidschanischen Armee in Berg-Karabach sind inzwischen mehr als 100’000 Menschen aus der Kaukasusregion geflohen.
Foto: Astrig Agopian (Getty Images)
Die Armenier gehören zu den gestraften Völkern der Weltgeschichte: Von ihrem in Antike und Mittelalter mächtigen Königreich im Kaukasus und in Anatolien ist nichts geblieben. Der von den Türken im Ersten Weltkrieg betriebene Völkermord an den armenischen Untertanen des Osmanischen Reichs wird von Ankara bis heute eiskalt bestritten. Und der kaukasische Kleinstaat, der sich heute Armenien nennt, kann sich nicht einmal selbst verteidigen.
Das hat der Blitzkrieg gezeigt, in dem der Nachbar Aserbaidschan das umstrittene Berg-Karabach erobert hat. Nun beginnt ein Exodus, an dessen Ende es keine Armenier mehr geben wird im «Schwarzen Garten». Die Karabach-Armenier fliehen aus Angst vor Pogromen. In wenigen Wochen dürfte es dort keine armenischen Christen mehr geben, wartet auf 120’000 Flüchtlinge eine Zukunft in Zelten und Containern.
Ankara will freie Handelswege bis Zentralasien
Doch die jüngste kaukasische Tragödie reicht über das Schicksal der Karabach-Armenier hinaus. Der Konflikt weist auf eine Kräfteverschiebung im lange Jahre von Moskau dominierten Südkaukasus hin. Die aufstrebende Militärmacht Türkei betreibt Geopolitik mithilfe ihrer turkstämmigen «Brudernation» Aserbaidschan. «Eine Nation, zwei Staaten» lautet der türkisch-aserbaidschanische Treueschwur. Er steht für Ambitionen: Ankara will sich freie Handelswege ans Kaspische Meer erschliessen und von dort aus nach Zentralasien.
Die Türken betrachten sich in diesem rohstoffreichen Raum als historisch prädestinierten Player. Nationen wie Turkmenistan, Usbekistan oder Kasachstan haben uralte Turk-Wurzeln. Als ehemalige Sowjetrepubliken pflegen sie ein gebrochenes Verhältnis zu Russland als der Immer-noch-Hegemonialmacht. Der Iran hat sich in Zentralasien nie als Führungsmacht durchgesetzt, China ist auch noch nicht da.
Schon der Karabach-Krieg von 2021 diente Ankaras Ziel, sich Räume zu erschliessen. Gewonnen hatte Aserbaidschan «seinen» Krieg nur dank türkischer Aufrüstung mit Drohnen, Jets und Ausbildern. Schon damals ging es Ankara und Baku nicht allein um Berg-Karabach. Zweites Ziel war ein Landkorridor von der aserbaidschanischen Küste des Kaspischen Meeres bis hinunter nach Anatolien und in die türkischen Industriezentren.
Armenien steht jetzt allein da
Das wäre eine offene Passage für den Handel türkischer Produkte ans Kaspische Meer und nach Zentralasien. Und ein Meilenstein für die rohstoffarme Türkei, die Öl- und Gasdrehscheibe vieler Fördernationen werden möchte. Ein Hebel für politischen Einfluss in einem muslimischen Grossraum wäre zudem gewonnen.
Der Schwachpunkt: Aserbaidschan ist geteilt. Die an die Osttürkei grenzende aserbaidschanische Enklave Nachitschewan hat bis heute keine Landverbindung zum Mutterland, das am Kaspischen Meer riesige Vorkommen an Öl und Gas ausbeutet. Jetzt, nach der Niederlage der Karabach-Armenier, dürften Baku und Ankara alles daran setzen, den geschwächten Armeniern das für den Korridor benötigte Land sehr bald abzupressen: politisch oder mit Gewalt.
Armenien steht allein. Russland als Schutzmacht hat wegen des Ukraine-Kriegs Probleme. Der Kreml verheizt dort seine Truppen, frische Soldaten für neue Konflikte hat er nicht. Die USA oder die Nato werden sich im Kaukasus nicht engagieren. Und die EU wird nur Vermittler schicken, deren Erfolge auf sich werden warten lassen.
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