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Streit um Bergkarabach: Armenier fühlen sich von Russland verraten

Seit mehr als hundert Jahren streiten Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach. Derzeit scheint eine Konfliktlösung näher denn je zu sein - zumindest auf dem Papier. Russland versucht unterdessen alles, um den Konflikt eingefroren zu lassen.

Bergkarabach ist ein kleiner, gebirgiger Landstrich im südlichen Kaukasus. 120.000 Einwohner. Etwa doppelt so groß wie das Saarland. Völkerrechtlich gehört das Gebiet zu Aserbaidschan. Es wird aber hauptsächlich von Armeniern bewohnt und auch von Armenien beansprucht. Seit über einem Jahrhundert ist das so.

"Im frühen 20. Jahrhundert war es eine hochgradig gemischte ethnische Region, damals als Teil des Zarenreichs. In Folge der Oktoberrevolution 1917 ist der Konflikt zwischen Aseris und Armeniern dann erstmals blutig aufgebrochen", blickt der Risikoanalyst und Postsowjetexperte Hannes Meissner im ntv-Podcast "Wieder was gelernt" zurück. "Die Sowjetunion hat damals versucht, den Konflikt zu befrieden. Das ist nicht wirklich gelungen, die Spannungen hatten weiter Bestand."

Bis der Konflikt 1988 eskalierte. Mehrere hundert Tote und Pogrome waren die Folge. 1991 erklärte die Republik Arzach, wie Bergkarabach auf armenisch bezeichnet wird, ihre Unabhängigkeit. Aserbaidschan sprach der Region daraufhin ihren autonomen Status ab. Bis zum Waffenstillstand im Jahr 1994 starben tausende Menschen.

In den Jahrzehnten danach flammte der Konflikt punktuell immer wieder auf, im November 2020 vermittelte Russland nach sechs Wochen Krieg in der Region erneut einen Waffenstillstand und schickte sogenannte Friedenstruppen in die Region. Die sind bis heute hier stationiert.

40.000 Tote seit Ende der 1980er

Als größter und mächtigster Akteur im postsowjetischen Raum pflegt Russland seit dem Zerfall der UdSSR enge Beziehungen sowohl zu Armenien als auch zu Aserbaidschan, in der Bergkarabach-Frage steht Moskau aber auf der Seite Armeniens.

Russland habe jedoch keinerlei Interesse an einer Konfliktlösung, betont Politikwissenschaftler Meissner im Podcast. Es gehe Moskau darum, den Streit einzufrieren und die Region dauerhaft instabil zu halten.

Weil Russland durch seinen Angriff auf die Ukraine aber stark geschwächt und das Militär stark gebunden ist, fürchten vor allem die Armenier gravierende Konsequenzen für ihr Land.

Sie fühlen sich ausgeliefert. Von den Russen und von der eigenen Regierung. Die ist in der derzeit verworrenen geopolitischen Lage angeblich dazu bereit ist, die Region Bergkarabach an Aserbaidschan abzugeben - unter der Bedingung, dass Aserbaidschan die Sicherheit der armenischen Bevölkerung garantieren und ihre Rechte anerkennen wird.

In Armenien mache sich derzeit eine "fatalistische Stimmung" breit, berichtet Hannes Meissner aus der Hauptstadt Jerewan. Viele Menschen in dem 2,7-Millionen-Einwohner-Land fühlten sich von ihrer eigenen Regierung und den Russen verraten. Aserbaidschan werde nie die Rechte der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach respektieren, fürchten sie.

Schätzungsweise sind im Zuge des Konflikts allein seit Ende der 1980er Jahre bereits etwa 40.000 Menschen gestorben. Die Armenier ahnen, es könnten noch mehr werden, wenn Aserbaidschan die alleinige Kontrolle über Bergkarabach bekommt.

Aserbaidschan blockiert Versorgung

Dass der Konflikt tatsächlich kurz vor der Lösung steht, glaubt Meissner indes nicht. Er sieht Russland noch nicht als so schwach an, als dass es seine Präsenz in der Region aufgeben werde. "Man sollte die Rolle Russlands nicht unterschätzen. Sicher gibt es eine neue geopolitische Situation, allerdings hat Russland die Kontrolle in der Region in den letzten Jahren nie komplett abgegeben."

Aserbaidschan hat 2020 ein Drittel des Territoriums von Bergkarabach zurückerobert, im Zuge des Waffenstillstandsabkommen erhielt Aserbaidschan ein weiteres Drittel. Das letzte Drittel von Bergkarabach steht aber weiterhin unter Kontrolle von Armenien.

Der letzte von den Armenien kontrollierte Teilstück ist nunmehr komplett von Aserbaidschan umschlossen und von Armenien aus nur über den sogenannten Latschin-Korridor erreichbar. Dieses Nadelöhr wird seit Ende vergangenen Jahres von Aserbaidschan blockiert. Die 120.000 Einwohner in Bergkarabach können deshalb kaum noch mit dem Nötigsten versorgt werden, Lebensmittel- und Medikamentenknappheit sind zu einem großen Problem geworden.

"Armenien ist der schwächste Akteur"

Dagegen wehren kann sich Armenien jedoch kaum, wirtschaftlich und militärisch sitzt Aserbaidschan am längeren Hebel. "Die armenische Seite ist der schwächste Akteur in diesem Konflikt. Sie sind Getriebene und sagen, dass sie traditionell von den Russen unterstützt wurden, jetzt aber von ihnen verlassen und verraten werden. Sie erkennen an, dass die Europäische Union versucht, die Rechte der Menschen in Bergkarabach zu sichern. Gleichzeitig fürchten sie, dass die EU nur zu einem gewissen Grad für die armenischen Interessen einstehen kann", berichtet Experte Meissner im ntv-Podcast.

Und tatsächlich ist Aserbaidschan für die EU vor allem im Zuge der Energiekrise zu einem wichtigen Gaslieferanten geworden. Dass sich Brüssel deshalb nicht bis zum Äußersten für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Sicherheit von Minderheiten einsetzen wird, ist die harte Wahrheit der Realpolitik. Zumal es angesichts der westlichen Position im Ukraine-Krieg taktisch unklug wäre, sich im Kaukasus über das Völkerrecht zu stellen, welches Aserbaidschan die Bergkarabach-Region zubilligt. Das wissen auch die Armenier, die sich deshalb in einer ausweglosen Situation wähnen.

Untergräbt Oligarch die Annäherungen?

"Armenien ist das schwächste Glied in der Region", bringt Meissner die Problematik auf den Punkt. Der Westen könne sich aus genannten Gründen nicht komplett auf die Seite Armeniens stellen, gleichzeitig stehe die Türkei als wichtige Regionalmacht ohnehin an der Seite von Aserbaidschan.

Experte Meissner sieht zudem die Bemühungen Russlands, den Konflikt um Bergkarabach weiter schwelen zu lassen, noch nicht am Ende angekommen. Dafür spricht auch, dass mittlerweile der schwerreiche russische Oligarch Ruben Wardanjan in Bergkarabach das Ruder übernommen hat. Der Mann mit armenischen Wurzeln lebte seit 1985 in Russland, gab seine russische Staatsbürgerschaft aber voriges Jahr auf und inszeniert sich seitdem als Kümmerer für die Menschen in der abgeschiedenen Region. Er sei ein "prorussischer Spieler, der versucht, die Annäherungen zwischen Aserbaidschan und Armenien zu untergraben", analysiert Meissner.

Mit der gleichen Strategie hat Russland seit Jahren Erfolg im postsowjetischen Raum - zum Beispiel in Moldau oder Georgien, aber auch in der Ukraine, wo der Kreml jahrelang Separatisten unterstützt hat. Russland versucht überall, seinen Einfluss zu behalten. Das geht aber nur, wenn Konflikte schwelen gelassen und Friedensbemühungen untergraben werden.

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.

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