Germany
This article was added by the user . TheWorldNews is not responsible for the content of the platform.

„Ich habe gehandelt, wie jeder Franzose gehandelt hätte und handeln muss“

„Henri, 24, Liebhaber der Kathedralen“, das ist seine kurze Profilbeschreibung in den sozialen Netzwerken. Er ist einer der Helden des erschütternden Donnerstags, an dem ein Syrer in der Postkartenstadt Annecy mit einem Klappmesser vier Kleinkinder und zwei Erwachsene teils lebensgefährlich verletzte.

Ein nur wenige Sekunden dauerndes Video zeigt den jungen Mann, wie er mit seinem Rucksack auf den Täter einschlägt. Auf einem zweiten sieht man, wie er seinen Tagesrucksack als Schutz vor die Brust nimmt und dem Täter hinterherrennt.

Henri d’Anselme verfolgt den Täter in Annecy

Henri d’Anselme verfolgt den Täter in Annecy

Quelle: AFP

Seit die gefilmten Bruchstücke des Horrortags in den sozialen Netzwerken die Runde machen, ist Henri der Held der Nation. „Ganz Frankreich sagt: MERCI“, schreibt ein Bewunderer auf Twitter.

Henri d’Anselme heißt der junge Mann. „Betet für die Kinder, mir geht es gut“, ist seine erste Nachricht nach dem Schreckensmorgen. Selbstlosigkeit scheint sein Prinzip zu sein. Henri, gläubiger Katholik und ehemaliger Pfadfinder, verkörpert das Gute, an dem sich die menschliche Seele festhalten will und muss, wenn sie mit dem absolut Bösen konfrontiert wird.

Summum malum nannte das Augustinus. Schon der alte Kirchenlehrer versuchte zu verstehen, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Und tatsächlich leuchtet das Gute umso heller, je dunkler der Abgrund ist, von dem es sich abhebt.

Doch Henri, der Held der Nation, lehnt diese Rolle ab. Er ist bescheiden. In einem Fernsehinterview erklärt er, gar nicht nachgedacht zu haben. „Ich bin meinem Instinkt gefolgt und habe einfach alles getan, um die Schwächeren zu beschützen“, „die reine Unschuld, Kinder, die angegriffen werden.“

Henri d’Anselme, der gerade sein Philosophie- und Managementstudium abgeschlossen hat, ist seit zweieinhalb Monaten unterwegs in Frankreich, zu Fuß, auf einer großen Tour der Kathedralen, bei der er sich, wie er im Vorfeld schrieb, auf die Vorsehung verlassen wollte. „Es war kein Zufall, dass ich da war“, sagt er, „ich habe auf dem Weg der Kathedralen den Weg dieses Mannes gekreuzt. Aber ich habe gehandelt, wie jeder Franzose gehandelt hätte und handeln muss.“

Die Frage, wie dieser Einschnitt sein Leben verändern wird, wiegelt er ab. „Mein Leben wird sich nicht verändern. Ich habe auch vorher immer versucht, Gutes zu tun in meiner unmittelbaren Umgebung.“

Reise zu den baufälligen Kathedralen

Seine Pilgerreise begann Ende März in Südfrankreich, in der Benediktinerabtei von Barroux, nordöstlich von Avignon, und ging über 75 Etappen bis nach Annecy. 27 Kathedralen hat er besucht, besichtigt und in Posts im Internet regelrecht besungen. 1721 Kilometer hat er bereits zurückgelegt, weitgehend zu Fuß, erst als sein Knie bei jedem Anstieg zu schmerzen begann, entschloss er sich, längere Strecken zu trampen.

Auslöser seiner Pilgerreise war ein Bericht des französischen Senats über die Baufälligkeit von Frankreichs Kathedralen. In einem Porträt, das ihm die katholische Webseite Aleteia vor der Messerattacke gewidmet hatte, gibt er zu Protokoll, dass seine Pilgerreise auch der Versuch sei, die Frage nach „Frankreichs Berufung als älteste Tochter der Kirche“ zu beantworten.

„Der ‚Rucksack-Held‘ – ein junger Mann, der auf Pilgerreise war“

Nach der Messer-Tat von Annecy sorgt neben der Grausamkeit des Angriffs auch eine Heldentat für Aufsehen: Ein junger Mann hat den Täter offenbar von spielenden Kindern weggedrängt – mit seinem Rucksack, berichtet WELT-Reporter Max Hermes.

Quelle: WELT/Marie Droste

„Worin besteht der Sinn in dem, was ich tue? Was treibt mich an? Einfach nur Wandern? Nein, es reicht, ich habe meine Dosis. Der Pilger hat sich jetzt in einen Kämpfer verwandelt“, schreibt er wenige Tage vor dem Drama und endet seine Nachricht mit den Worten: „Ihr seid meine Mission. Mich treibt an, euch diese Schönheit zu vermitteln.“

Henri ist nicht der einzige Held von Annecy. Auch andere haben versucht, den Täter aufzuhalten, unter Lebensgefahr das Schlimmste zu verhindern. Eine Tagesmutter hat sich vor den Kinderwagen geworfen, in dem ihr Schützling saß. Wie das Kleinkind wurde auch sie verletzt.

Grauzone zwischen Terror und Wahnsinn

Zwei Gärtner sollen mit Schaufeln versucht haben, auf den Täter einzuschlagen. Manuel, ein 72 Jahre alter Portugiese, ist dem Syrer ebenfalls hinterhergerannt, wurde mit dem Messer verletzt und soll nach Angaben der Polizei auch vom Schuss eines Polizisten getroffen worden sein, der für den Täter bestimmt war. Von ihrem Mut gibt es keine Filme, sie sind die unsichtbaren, die stillen Helden.

Am Freitagvormittag ist Emmanuel Macron mit seiner Ehefrau Brigitte nach Grenoble geflogen, um im Universitätsklinikum, in dem zwei der schwer verletzten Kinder operiert wurden, den Familien beizustehen und mit den Ärzten zu sprechen. Am Nachmittag stand auch ein Treffen mit Henri d’Anselme auf dem Programm des Präsidenten. In Frankreich geht derweil die erhitzte Debatte über eine Verschärfung des Asyl- und Einwanderungsgesetzes weiter.

Kinder zünden Kerzen am Tatort an

Kinder zünden Kerzen am Tatort an

Quelle: picture alliance/dpa/MAXPPP/Gilles Bader

Die Tat eines mutmaßlich psychisch Kranken ist von Marine Le Pen unerwartet zurückhaltend kommentiert worden, während der Fraktionsvorsitzende der Konservativen mit den Worten reagierte: „Unkontrollierte, massive Einwanderung tötet.“ Dass der Mann anerkannter Flüchtling war, dass er ein Kreuz getragen und beim Angriff zweimal auf Englisch „Im Namen von Jesus Christus“ gerufen hat, scheint dieses Narrativ nicht zu stören.

Bislang sieht die Staatsanwaltschaft kein terroristisches Motiv. Aber wie geht man damit um, wenn ein Christ im Namen von Christus tötet? Wie damit, dass ein gläubiger Christ Kinder vor einem anderen Christen unter Einsatz seines Lebens rettet?

Noch sind Frankreichs Katholiken nicht aufgestanden, um sich von der Horrortat zu distanzieren. Das „Not in my name“, das oft nach islamistischen Terrorattacken eingeklagt wurde, blieb zu Recht aus. Die Grauzone zwischen Terror und Wahnsinn hat sich an diesem Sonnentag in Annecy weiter verschleiert, sie ist noch unergründlicher geworden.

An dieser Stelle finden Sie Inhalte von Drittanbietern

Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du . Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.