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Was tun, wenn man keine Bindung zum Ungeborenen spürt?

Valentina Rauch-Anderegg, besuchen viele schwangere Frauen Ihre Praxis aus dem Grund, weil sie keine Verbindung zu ihrem ungeborenen Kind spüren?
Es kommt selten vor, dass sie gleich zu Beginn sagen, dies sei ihr Problem. Häufiger nennen sie allgemeine Schwierigkeiten in der Schwangerschaft als Grund für ihren Besuch bei mir. Erst im Verlaufe des Gesprächs sprechen sie dann aus, dass sie Mühe haben, eine Bindung zum Kind aufzubauen. Das Thema ist leider noch immer sehr schambehaftet.

Kommt es denn häufig vor, dass Frauen in der Schwangerschaft keine Muttergefühle entwickeln?
Es kommt auf jeden Fall öfter vor, als dass darüber gesprochen wird. 

Und ist es ein Grund zur Sorge?
Nein. Es ist nicht per se ein Alarmzeichen, wenn man die Vorstellung, dass da ein kleines Wesen im Bauch heranwächst, komisch findet. Den einen Frauen gefällt es, die Hände auf den Bauch zu legen und zu spüren, wie sich das Kind bewegt – für andere ist das befremdend. Gerade als Erstmami kann man vieles noch nicht richtig einordnen. Hinzu kommt, dass die Schwangerschaft in der Werbung fast ausschliesslich als schön und friedlich dargestellt wird. Das prägt unsere Vorstellung davon, wie es sein sollte. Sieht die Realität dann anders aus, verunsichert das. Doch die Beziehung zwischen Mutter und Kind muss entstehen und wachsen können. Und so lange das Baby noch im Bauch ist, ist es im wahrsten Sinne noch nicht wirklich greifbar.

Valentina Rauch-Anderegg

Valentina Rauch-Anderegg findet es wichtig, dass betroffene Frauen über ihre Sorgen sprechen.

ZVG

Welche Gedanken plagen werdende Mütter, die keine Verbindung zu ihrem Kind fühlen?
Sie zweifeln daran, eine gute Mutter zu werden und haben Angst, dem Kind durch die noch nicht vorhandenen Gefühle bereits während der Schwangerschaft zu schaden. Ihre Gedanken eilen oft extrem voraus. So fragen sich die werdenden Mamis etwa, ob das Kind wegen ihnen als junger Erwachsener bindungsunfähig wird oder sich auf andere Weise negativ entwickelt.

Sind diese Ängste begründet?
Verschiedene Studien zeigen auf, dass sich Stress in der Schwangerschaft negativ aufs Kind auswirken kann. Und durch dieses Gedankenkarussell sind die Frauen gestresst. Kommt es nach der Geburt zu einer postnatalen Depression, kann es zudem sein, dass die Betroffenen weniger sensitiv auf ihr Baby reagieren und sie das Kind zum Beispiel nicht genauso rasch beruhigen können, wie das eine gesunde Frau könnte, weil sie die Signale des Kindes nicht richtig zu deuten vermögen. Aber wie gesagt: Die Beziehung zum Kind muss wachsen können. Das braucht Zeit und Geduld.

«Es ist nicht per se ein Alarmzeichen, wenn man die Vorstellung, dass da ein kleines Wesen im Bauch heranwächst, komisch findet.»

Die Frauen sollen sich also nicht unter Druck setzen?
Genau. Wichtig ist auch, dass man das ganze Thema normalisiert und den Frauen vermittelt, dass sie mit ihren Sorgen nicht allein sind. Es ist einfach ein Thema, über das kaum jemand spricht. Weiter lohnt es sich, mit externer Hilfe die eigenen Erwartungen zu ergründen. Sind sie realistisch? Und was macht überhaupt ein gutes Mami aus? Muss ich ein perfektes Mami sein oder reicht es, wenn ich ein gutes Mami bin? Solche Fragen werden erörtert. Zudem wird die Vorgeschichte der Frau angeschaut: Gibt es Risikofaktoren? Leidet die Frau unter einer Angststörung oder Depressionen? Verhindert eine (Vor-)Erkrankung, dass eine Beziehung zum Kind aufgebaut wird? 

Ist es für Mütter, die während der Schwangerschaft keine Verbindung zum Kind spüren, auch nach der Geburt schwieriger, eine aufzubauen?
Ist eine psychische Erkrankung dafür verantwortlich, dann ist das Risiko erhöht. Gibt es jedoch keinen pathologischen Hintergrund, dann würde ich das bloss als eine Herausforderung in der Schwangerschaft betrachten, die noch lange nicht zur Folge haben muss, dass es der Mutter auch nach der Geburt schwerer fällt, eine Verbindung aufzubauen. Die Natur hilft uns dabei mit der Hormonproduktion. Dann braucht es einfach Zeit, sein Kind und sich selbst als frischgebackene Mutter kennenzulernen.

Welchen weiteren Tipp möchten Sie betroffenen Frauen auf den Weg geben?
Sie sollen sich vor der Geburt ihrer Hebamme anvertrauen und sagen, dass sie Sorgen haben, was den Beziehungsaufbau zum Kind betrifft. So kann die Hebamme bei ihren Besuchen nach der Geburt jeweils ein Auge auf die Situation haben, was für die Frauen wiederum beruhigend ist. Oder sie können vor der Geburt mit einer Psychologin darüber sprechen, damit nach der Geburt die Hemmschwelle tiefer ist, Kontakt aufzunehmen und das Thema nochmals anzusprechen. Ich rate den Frauen generell, über ihre Sorgen und Ängste zu sprechen. Denn je offener sie sind, desto mehr Unterstützung bekommen sie von Fachleuten. Ideal ist natürlich auch, wenn man mit dem Partner oder einer guten Freundin ehrlich sprechen kann. 

Dr. phil. Valentina Rauch-Anderegg ist klinische Psychologin und eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin. In ihrer Praxis in Affoltern am Albis berät sie Einzelpersonen und Paare. Zudem forscht sie zum Thema Elternschaft und Paarbeziehung.

Von fei vor 2 Minuten