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Wahlfarce in Russland – nicht einmal mehr zur TV-Debatte erscheint irgendein Kandidat

Russland lässt bis Sonntag über Gouverneure und Stadtparlamente abstimmen. Die Wahl ohne Wahl gaukelt Normalität mitten im Angriffskrieg gegen die Ukraine vor.

Inna Hartwich, Moskau / ch media

Die einzelnen Wahllokale werden von einem Hauptquartier in Moskau aus videoüberwacht.

Die einzelnen Wahllokale werden von einem Hauptquartier in Moskau aus videoüberwacht.Bild: AP

«Guten Tag», grüsst der Moderator im staatlichen russischen Fernsehen Rossija 1. «Wahlen 2023» steht auf dem Bildschirm hinter ihm, es weht die russische Trikolore. «Herzlich willkommen zur Fernsehdebatte», sagt der Mann mit der Brille. Doch er steht allein da.

Die Kamera schwenkt zu den beiden Pulten, an denen die Kandidaten der Kommunistischen Partei der russischen Föderation und der Pop-Empörungspartei LDPR aus dem Kusbass, dem Steinkohlerevier Russlands in Sibirien, hätten Platz nehmen sollen. Doch die Pulte sind leer, beide Kandidaten blieben dem Studio fern.

“TODAY NO ONE CAME TO THE STUDIO”

On the channel "Russia 1," the live TV debate featuring candidates from the Communist Party of the Russian Federation and the LDPR, scheduled ahead of the Kuzbass elections, ended up being empty. The deputies,were to busy with their pic.twitter.com/78rkG8j4L2

— WorldMovement (@World_Movement_) August 24, 2023

Wie auch andere Kandidaten quer durchs Land ihre Debattiertische einfach Debattiertische haben sein lassen. Debatten sind in Russland ohnehin nicht geduldet. Der Moderator von Rossija 1 bricht nach einigen Sekunden seine Sendung ab, es geht weiter im Programm. Das Fernsehen meldet «Erfolge» an der Front in der Ukraine.

Das leere Studio im Kusbass ist symptomatisch für die russischen Regionalwahlen, die bis Sonntag andauern. Es sind Scheinwahlen, die der Legitimation des Bestehenden dienen. Das Volk soll Beifall klatschen, mit unterschiedlichen Methoden werden die Wahlberechtigten dazu gebracht.

Staatsangestellte werden faktisch genötigt, ihre Kreuze bei den «richtigen» Kandidaten zu machen. Andere lockt man mit allerlei Gewinnen. Allerdings werden - im Gegensatz zum vergangenen Jahr - keine Wohnungen oder Autos mehr verlost, sondern Medikamente, Spielzeug oder Geld. Für manche Menschen im Land ist bereits das ein enormer Anreiz.

Oppositionelle habe sich ins Ausland abgesetzt

Abgestimmt wird in ganz Russland - auch in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja. In 20 Regionen stehen Gouverneure zur Wahl, in Moskau soll der Bürgermeister gewählt werden, in 16 Regionen werden Lokalparlamente gewählt und auch vier freigewordene Sitze für die Duma, das Staatsparlament, sollen neu besetzt werden. Es ist eine Wahl mitten im Krieg, sie gaukelt Normalität vor. Eine Normalität, die hohl ist.

Auch im besetzten Mariupol wird gewählt. Diese Frau legt ihren Stimmzettel in die durchsichtige Wahlurne mit dem russischen Wappen.

Auch im besetzten Mariupol wird gewählt. Diese Frau legt ihren Stimmzettel in die durchsichtige Wahlurne mit dem russischen Wappen.Bild: epa

Wahlkämpfe, die als Wahlkämpfe zu bezeichnen wären, gibt es nicht mehr. Viele oppositionelle Kandidaten, die zur Wahl im vergangenen Jahr noch angetreten waren, haben das Land längst verlassen. Auch wenn Oppositionelle aus dem Ausland versuchen, die in Russland gebliebenen Russinnen und Russen dazu zu motivieren, zur Wahl zu gehen, weil nur durch Wahlen das Land zu verändern sei, so verhallen ihre Aufrufe meist ungehört.

Die Menschen sind müde, sind müde gemacht worden von einem System, das politische Beteiligung mit rigorosen Gesetzen getilgt hat, viele sehen keinen Sinn darin, sich an der Abstimmungsfarce zu beteiligen.

In Moskau finden sich entlang der Strassen mehr Plakate mit der Werbung, an der Front zu dienen, als Konterfeis von Bürgermeisterkandidaten. Viele Menschen wissen gar nicht, wer die Gegner des langjährigen und durchaus erfolgreichen Moskauer Bürgermeisters Sergej Sobjanin sind. Der 65-Jährige lässt die Stadt hübsch gestalten, lässt immer weitere Metro-Stationen einrichten, Krankenhäuser bauen und die Verwaltung digitalisieren.

Einer Rentnerin wird in einem Moskauer Wahllokal beim Einwerfen des Stimmzettels geholfen.

Einer Rentnerin wird in einem Moskauer Wahllokal beim Einwerfen des Stimmzettels geholfen.Bild: EPA

Zum Krieg dagegen äussert er sich nie. Manche Moskauer wissen nicht einmal, dass Wahl ist. «Ich gehe seit Jahren nicht abstimmen, warum sollte ich das jetzt plötzlich tun?», fragt eine ältere Dame im Zentrum der Stadt. «Wahl? Es ist doch Stadtfest. Wir gehen mit der ganzen Familie feiern», sagt eine junge Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschiebt.

Moskau hat sich herausgeputzt, hat Häuserwände mit Fahnen geschmückt, hat Bühnen in den Parks aufstellen lassen. Es feiert das 876. Jahr seines Bestehens. Es gibt Konzerte, Kinderschminke und ein Feuerwerk am Abend. Und doch ist der Staat äusserst bemüht, die Wahl wie eine Wahl aussehen zu lassen, auch wenn er unabhängige Wahlbeobachter als Extremisten betrachtet und einzusperren versucht.

Probelauf für Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr

Es ist ein Probelauf für die Präsidentschaftswahl im März 2024. So werden gewisse Methoden bereits jetzt getestet. Vor allem das Abstimmen zu Hause am Rechner, das auf jede russische Region ausgeweitet wurde. Dabei lassen sich Manipulationen noch weniger nachvollziehen. In manchen Regionen werden für Kandidaten jeglicher Parteien gleich aussehende Werbezettel gedruckt, die Menschen können dabei kaum erkennen, wer sich wofür einsetzt.

Mit dem absurden Anschluss ukrainischer Gebiete, die Russland gar nicht kontrolliert, neuen falschen Karten in russischen Schulbüchern und den Scheinwahlen versucht Putin seine alternative Realität weiter voranzutreiben. Die Gebiete bleiben Ukraine und die „Wahlen“ sind keine.

— Nico Lange (@nicolange_) September 8, 2023

Letztlich ist das gar nicht wichtig. In der Region Woronesch im südlichen Zentralrussland haben sich gleich acht Männer mit demselben Nachnamen registriert. Die Menschen können nun zwischen Wladimir, Alexander, Alexej, Anatoli, Anton, Wiktor, Jewgeni oder Juri Wachtin wählen.

In der Region Smolensk hatte es einen Aufstand gegeben, weil sich ein Alexander Selenski als Kandidat für die Regierungspartei «Einiges Russland» hat aufstellen lassen. Ein Rentner behauptete, dies beleidige «alle Teilnehmer der militärischen Spezialoperation und alle Patrioten». Selenski kandidiert weiter.

In der Republik Chakassien, einer Region im Süden Sibiriens, sah sich der Staat gezwungen, dem jungen Kommunisten Walentin Konowalow, der als 30-Jähriger in einer Protestwahl vor fünf Jahren den Posten des Oberhaupts der Republik erobert hatte, einen loyalen Duma-Abgeordneten als Gegenspieler vor die Nase zu setzen.

Als immer klarer wurde, dass Sergej Sokol, ein Mitglied von «Einiges Russland», Konowalow unterliegen würde, meldete sich Sokol krank und zog seine Kandidatur zurück. Auf ein offenes Kräftemessen wollte es der Staat offenbar nicht ankommen lassen. Damit verlor Russland auch seinen letzten einigermassen interessantesten Wahlkampf. (aargauerzeitung.ch)