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Volksabstimmung in Berlin: Das Unmögliche fordern – dank direkter Demokratie

Volksabstimmung in BerlinDas Unmögliche fordern – dank direkter Demokratie

In Deutschland kommen immer häufiger Initiativen an die Urne, die sich gar nicht umsetzen lassen. Wie jetzt bei «Berlin 2030 Klimaneutral».

Wünsch dir ein Datum: Berlin stimmt am Sonntag über eine Initiative ab, die die Regierung zwingen will, die Stadt 2030 statt 2045 klimaneutral zu machen.

Wünsch dir ein Datum: Berlin stimmt am Sonntag über eine Initiative ab, die die Regierung zwingen will, die Stadt 2030 statt 2045 klimaneutral zu machen.

Foto: Sean Gallup (Getty Images)

Kaum hat Berlin zum zweiten Mal sein Stadtparlament gewählt, hängen in den Strassen schon wieder Plakate: Mit Slogans wie «Es ist nicht zu spät!» und «Der Politik Ziele setzen!» werben sie für ein Ja zur Forderung, die Hauptstadt bereits 2030 klimaneutral zu machen – statt wie geplant 2045. 1,2 Millionen Euro fliessen in die Kampagne, mehr denn je bei einem Volksentscheid. Das Geld kommt vor allem von Investoren aus der Cleantech-Branche, die ein gutes Geschäft wittern.

Gelingt es der Initiative bei der Abstimmung am Sonntag, mindestens 612'000 Ja-Stimmen zu sammeln – das entspricht einem Viertel des Stimmvolks –, ist ihr Anliegen angenommen. Anders als bei früheren Berliner Volksbefragungen, die für die Regierung nicht bindend waren, wird diesmal über einen konkreten Gesetzestext abgestimmt. Sollte er angenommen werden, tritt er sofort in Kraft. Entsprechend liesse sich die Regierung später verklagen, sollte sie nicht die nötigen Massnahmen ergreifen.

60 bis 70 Prozent seien vielleicht zu schaffen

Landesweit diskutiert wird die Initiative vor allem, weil sie nach Ansicht praktisch aller Fachleute etwas fordert, das bis 2030 nicht erreichbar ist. Berlin müsste den Ausstoss von klimaschädlichen Gasen in sieben Jahren so stark reduzieren, wie es dies in den letzten 30 Jahren getan hat. 60 bis 70 Prozent Reduktion im Vergleich zu 1990 seien realistisch, strenge man sich an, meinen Sachverständige – aber nicht 95 Prozent, wie es die Initiative vorgibt.

Die Initiative schreibt im neuen Gesetz im Wesentlichen nur die Ziele neu. Wie diese zu erreichen sind, überlässt sie der gewählten Regierung. Fachleute skizzieren die Massnahmen, die nötig wären: Der Autoverkehr müsste halbiert und die verbleibende Hälfte elektrifiziert werden. Auf alle Dächer der Stadt kämen Solaranlagen, Windräder da, wo es möglich ist. Alle Gebäude, öffentliche wie private, müssten klimasaniert werden, alle Gas- und Ölheizungen ausgewechselt. Die höheren Kosten soll der Staat laut Initiative den Mieterinnen und Mietern zurückerstatten. Die Investitionen schätzt diese auf 112 Milliarden Euro – das wären drei komplette Jahresbudgets der Hauptstadt.

Helfen oder schaden solche Initiativen der Demokratie?

Die Vorstellung, Berlin wäre zu einer solchen Revolution bereit, mutet weltfremd an – ebenso wie die Idee, die Stadt könnte dieses Ziel als Insel innerhalb eines Staates erreichen, der insgesamt viel langsamer unterwegs ist. Nur schon beim Strom ist Berlin zur Hälfte auf den Nachbarn Brandenburg angewiesen, Solardächer hin oder her. Ist der Strom aber nicht grün, verbessern auch Elektroautos und Wärmepumpen die Klimabilanz nicht wirklich.

Auch sonst eine Stadt des Protests: Greenpeace demonstrierte diese Woche vor dem Brandenburger Tor in Berlin gegen die Blockade des EU-Verbots von Verbrennungsmotoren ab 2035 durch die Regierungspartei FDP.

Auch sonst eine Stadt des Protests: Greenpeace demonstrierte diese Woche vor dem Brandenburger Tor in Berlin gegen die Blockade des EU-Verbots von Verbrennungsmotoren ab 2035 durch die Regierungspartei FDP.

Foto: Maja Hitij (Getty Images)

Demokratiepolitisch stellt sich die Frage: Darf eine Volksinitiative das Unmögliche fordern – oder soll sie es gar? Alle grossen Parteien der Stadt lehnen die Initiative ab, mit Ausnahme der Berliner Grünen, die nach der Niederlage bei der Abgeordnetenwahl gerade die Wonnen der Opposition entdecken. Die jungen Initiantinnen finden, die Klimakrise sei so dramatisch, dass nur noch Radikalität weiterhelfe. Wer nicht Ziele anstrebe, die auf den ersten Blick unrealistisch schienen, werde am Ende gar nichts verändern. Der bekannte Berliner Politologe Wolfgang Merkel hingegen hält die Abstimmung für eine «Blackbox an der Grenze zur Manipulation». Andere Kritiker sprechen von «Wählertäuschung» und «Nötigung zum Gesetzesbruch». So verstärke man die Demokratieverdrossenheit, statt sie zu lindern.

In Berlin hat die Forderung des Unmöglichen bereits Methode: 2021 nahm das Volk eine Initiative an, die die Enteignung grosser Wohnungskonzerne forderte, 2017 eine Vorlage, die verlangte, der Flughafen Tegel müsse offenbleiben. Beiden Initiativen war gemein, dass sie rechtlich im Grunde gar nicht umsetzbar waren – und von der Regierung aus Sozialdemokraten, Grünen und Linken entsprechend auch nicht umgesetzt wurden.

Dominique Eigenmann ist seit 2015 Deutschlandkorrespondent in Berlin. Nach einem Studium der Germanistik und Philosophie in Zürich und Paris begann er 1994, für den «Tages-Anzeiger» zu schreiben.Mehr Infos@eigenmannberlin

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