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Unterwasserfotograf Michel Roggo: Nach dem Tod seiner Frau ertränkte er sich fast im Baikalsee

Unterwasserfotograf Michel RoggoNach dem Tod seiner Frau ertränkte er sich fast im Baikalsee

Der Schweizer Michel Roggo hat über 150 Expeditionen geplant und gilt als bedeutendster Unterwasserfotograf der Welt. Zwei Schicksalsschläge haben ihn geprägt – heute bewegt er sich fast nur noch in der Schweiz. 

Die Arbeit in der ganzen Welt hat ihn zu einer Grösse der Szene gemacht: Michel Roggo, Unterwasserfotograf.

Die Arbeit in der ganzen Welt hat ihn zu einer Grösse der Szene gemacht: Michel Roggo, Unterwasserfotograf.

Foto: Nicole Philipp

«Schau, eine Steinfliege!» Michel Roggo steht im Wasser, es reicht ihm bis zu den Knien, in seinen riesigen Stiefeln stakst er langsam gegen den Strom durch einen kleinen Bach im Berner Oberland, seine Kamera hängt im Wasser, darüber ein grosser Bildschirm. Einen der bekanntesten Unterwasserfotografen der Welt mag man sich an der Arbeit spektakulärer vorgestellt haben, aber es sei an dieser Stelle erwähnt: So hat Roggo die meisten seiner über 23’000 publizierten Bilder geschossen. «Schau, dort sind Larven!» Und wir sehen: nichts.

Ein gutes Auge allein reicht nicht. Über 150 Expeditionen hat Michel Roggo bis heute unternommen, an die 70 Länder besucht, er war in Hunderten Süsswassergewässern rund um den Globus. 71 Jahre alt ist Roggo, sein Radius hat sich etwas verkleinert, die Arbeit in der ganzen Welt aber hat ihn zu einer Institution in der Szene der Naturfotografen gemacht. Roggo ist preisgekrönt, seine Bilder wurden weltweit publiziert, ausgestellt und an Wettbewerben wie «Wildlife Photographer of the Year» ausgezeichnet.

Unterwasserlandschaften mit einer eigentümlichen Kraft: Eine Aufnahme aus der Gacka in Kroatien von 2012.

Unterwasserlandschaften mit einer eigentümlichen Kraft: Eine Aufnahme aus der Gacka in Kroatien von 2012.

Foto: Michel Roggo

Die Fotografien, die Roggo von jedem noch so unscheinbaren Ort nach Hause bringt, sind von einer eigentümlichen Kraft. Da ist Bewegung drin und viel Licht im Spiel, die Momente sind gleichzeitig still und dynamisch, mal schaut ein Fisch vorbei und manchmal nicht, aber darum geht es dem leidenschaftlichen Fischer gar nicht: Er will dem Betrachter die Perspektive unter Wasser vermitteln. Tatsächlich schwimmen wir mit dem Barsch, wir tauchen mit dem Schwan, und ja, wir schlängeln uns auch mit der Anaconda, denn in entlegenen Flüssen hat Roggo besonders viel fotografiert.

Angefangen damit hat er spät. Bis zu seinem 30. Lebensjahr war er überhaupt gar nie auf Reisen, nur als Knirps mal für einen Urlaub in Rimini. Aufgewachsen ist er in Freiburg, nahe an Sense und Saane, Flüsse, die es Michel Roggo schon als Kind antun. Zusammen mit seinem Bruder fängt er mit dem Fischen an. «Was soll ich damit?», fragt die Mutter, als die beiden mit den ersten Exemplaren nach Hause kommen.

In die Pfanne kommt der Fisch nur selten, dafür aber bald vor die Linse. Roggo ist gut im Fischefotografieren, geduldig und ausdauernd, bald schon veröffentlicht er seine ersten Bilder und verfolgt seinen Lieblingsfisch: den Lachs. Nebenher ist er Lehrer, doch es ist klar, dass es ihn zum Wasser zieht.

Laichzeit in Kanada 1990: In seinen Anfängen als Fotograf reiste Michel Roggo den Lachsen nach. Mit selbst gebastelten, fernbedienten Systemen schoss er vor der Digitalisierung Bilder, die es so noch nicht gegeben hatte.

Laichzeit in Kanada 1990: In seinen Anfängen als Fotograf reiste Michel Roggo den Lachsen nach. Mit selbst gebastelten, fernbedienten Systemen schoss er vor der Digitalisierung Bilder, die es so noch nicht gegeben hatte.

Foto: Michel Roggo

1992 wird zum ersten Schicksalsjahr in Michel Roggos Leben. Sein Bruder, zu dem er ein sehr enges Verhältnis hat, erhält eine Krebsdiagnose, drei Monate später ist er tot. Roggo ist am Boden zerstört, «vor allem aber erkannte ich, was es nun zu tun gab»: sich nur noch der Fotografie zu widmen.

Er kündigt seine Stelle als Lehrer und plant Reise um Reise. Er spürt den Lachs in Alaska auf und in Kanada, er fliegt mehr als ein Dutzend Mal an den Amazonas, er fotografiert im Malawisee in Afrika, im Baikalsee in Russland, in den Everglades in Florida, im Okavango in Botswana, an der Save in Slowenien. Piraten halten ihm am Rio Negro eine Pistole an den Kopf, im Pantanal ertrinkt er fast.

Kommt er in der Schweiz mal zu einer Pause, tüftelt Roggo an neuen Fototechniken. Lange vor der digitalen Zeit fotografiert er per Fernauslöser und mit einem meterlangen Kabel an einer Stange vom Flussufer aus und schiesst so ganz neuartige Bilder. «Einmal wurde ich von den Behörden angehalten, weil die meinten, ich fische mit Stromstössen.»

«Dann bin ich Teil dieser Welt»

Zurück im Berner Oberland, bedient Roggo eine handliche Digitalkamera im wasserfesten Gehäuse, dank dem grossen Bildschirm, der darauf montiert ist, sieht er genau, was er vor der Linse hat. Bedächtig bewegt er sich durchs Wasser, manchmal steht er auch nur da und wartet, minutenlang. Wenn er sich ganz ins Wasser begibt, hat das für ihn etwas Entrücktes. «Dann bin ich Teil dieser Welt, ich bewege mich nicht, lasse alles an mir vorbeiziehen. Plötzlich erkennst du ein Bild und drückst ab. Zack.»

Vorbeigezogen sind an Michel Roggo auch die Jahre. Seine Bilder werden noch immer auf der ganzen Welt abgedruckt, um sein Archiv kümmert sich im Ausland eine Agentur, in der Schweiz vertreibt er sie selber. Daneben hält er Vorträge und stellt aus, in naturhistorischen Museen in der Schweiz, an Messen und in Galerien. In eine Pensionskasse hat er nie etwas einbezahlt. Er arbeitet jeden Tag, «während die Leute um mich herum langsam auf den Golfplätzen verschwinden». Sagts und lacht.

Weit vor dem digitalen Zeitalter tüftelt Michel Roggo ständig an neuen Techniken: Expeditionsausrüstung 1994 im Amazonas.

Weit vor dem digitalen Zeitalter tüftelt Michel Roggo ständig an neuen Techniken: Expeditionsausrüstung 1994 im Amazonas.

Foto: Michel Roggo

Im Jahr 2000, mit fast 50, erhält Roggos Leben noch einmal eine neue Wendung. Er, der die allermeisten seiner Reisen ganz allein unternommen hat, lernt eine Frau kennen. Sie reisen zusammen, er legt die Kamera auch mal beiseite. «Bin ich ein Besessener?», fragt er sie. «Nein, nur ein Getriebener», antwortet sie ihm.

Einmal reisen die beiden für einen Vortrag nach Russland, am Baikalsee lernen die beiden tauchen, schon 62 ist er da. Vergnügt denkt er heute daran zurück, was das in seinem Umfeld ausgelöst hat: der alte Mann unter Wasser. Die neue Perspektive verleiht seinen Bildern neue Dynamik. Roggo startet das «Freshwater Project», für das er plant, 30 Gewässer auf der ganzen Welt zu besuchen und mit speziellen Kameras auch zu filmen. Spektakuläre Bilder entstehen, TV-Stationen melden sich für Dokumentationen.

So sieht Roggos Arbeit heute von aussen aus: Michel Roggo im Oey-Bächli neben der Saane im Berner Oberland.

So sieht Roggos Arbeit heute von aussen aus: Michel Roggo im Oey-Bächli neben der Saane im Berner Oberland.

Foto: Nicole Philipp

Das Bild dazu erinnert an eine ferne Unterwasserwelt: Eine Aufnahme aus dem Oey-Bächli.

Das Bild dazu erinnert an eine ferne Unterwasserwelt: Eine Aufnahme aus dem Oey-Bächli.

Foto: Michel Roggo

Es läuft rund. 2013 heiraten Roggo und seine acht Jahre jüngere Frau in der Schweiz. Wenig später muss sie zum Arzt: Der Krebs, der schon vor Jahren besiegt schien, ist wieder da.

Ein Jahr später ist sie tot.

Haben Seen eine Seele?

Im Bergbach im Berner Oberland entdeckt Michel Roggo immer mehr Details. Stundenlang könnte er dort verharren, schliesslich zeigt er sich mit den fröstelnden Reportern nachsichtig. So langsam wird klar, was Roggo an diese Gewässer zieht. Für einen Mann mit seinem Schicksal ist ein Fluss auch ein Lebensstrom, ein Halt in dunklen Zeiten. «Jedes Gewässer hat seine Seele», sagt Roggo überzeugt. Auf seinen ersten von vielen Reisen zum Baikalsee tat er es anfänglich noch als Schamanismus ab, dass die Menschen in Sibirien ihren See als Lebewesen bezeichnen. Heute ist er überzeugt: Der Baikal lebt.

Nach dem Tod seiner Frau lässt er die Kamera während Monaten liegen. Roggos Lebenslust ist ausgehaucht. Die Brücken rund um seine Heimatstadt meidet er in dieser Zeit, «da war immer ein Ziehen, es war verlockend, all der Schmerz wäre plötzlich weg». Nach langer Zeit reist er wieder an den Baikalsee, taucht mit seinen russischen Freunden. «Auch dort unten hätte mich niemand gesucht. Ich spielte mit dem Gedanken, mich einfach absinken zu lassen in die endlose Tiefe.»

Um die Tiere geht es Roggo nicht, er will dem Betrachter die Perspektive unter Wasser vermitteln: Russischer Braunbär mit Lachsresten im Bart im Osernaja-Fluss in Kamtschatka. 

Um die Tiere geht es Roggo nicht, er will dem Betrachter die Perspektive unter Wasser vermitteln: Russischer Braunbär mit Lachsresten im Bart im Osernaja-Fluss in Kamtschatka. 

Foto: Michel Roggo

In den entlegensten Flüssen der Erde: Mit einem Krokodil im Okawango-Delta in Botswana 2014. 

In den entlegensten Flüssen der Erde: Mit einem Krokodil im Okawango-Delta in Botswana 2014. 

Foto: Michel Roggo

Über die Schönheit der Natur findet Roggo zurück ins Leben. Er nimmt sein Süsswasserprojekt wieder auf, reist und fotografiert, am Ende werden es 40 Gewässer, während sieben Jahren ist er dran. Die Ausstellung 2019 im Zoologischen Museum der Universität Zürich stösst auf grosses Echo.

Die Recherchen fürs globale Projekt könnten seine letzten langen Reisen gewesen sein. Nicht nur Corona hat ihn dazu bewogen, sich lokaler zu bewegen. Zurzeit schiesst er Bilder für den Renaturierungsfonds des Kantons Bern, er will damit mehr Unterstützung für die Erhaltung von allen möglichen Gewässern erreichen. Das hat ihn seine Heimat wieder entdecken lassen. Roggo ist unterwegs, noch immer jeden Tag, doch statt zum Flughafen fährt er in entlegene Täler oder steigt auch mal in einen Tümpel an der Autobahn.

Das Ergebnis ist unverändert spektakulär. Aus Kleinem schafft er Grosses, aufwendig inszenierter Naturfotografie stand er immer kritisch gegenüber. Aus dem Oey-Bächli im Berner Oberland nimmt er von diesem Nachmittag Bilder nach Hause, die an eine ferne Unterwasserwelt im Amazonas erinnern. Darauf sehen wir: all das, was wir vorhin im Feld verpasst hatten.

Am Amazonas? In der Aare! Aufnahme aus einem Seitenarm der Aare vom Sommer 2021. 

Am Amazonas? In der Aare! Aufnahme aus einem Seitenarm der Aare vom Sommer 2021. 

Foto: Michel Roggo

Moritz Marthaler ist Redaktor im Ressort Leben und schreibt für Tamedia seit 2010 in wechselnden Rollen über Sport- und Gesellschaftsthemen.Mehr Infos@momarthaler

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