Serie «Wie wir leben»Der Job als Englischlehrerin frustrierte sie – also wurde sie Ninja-Kämpferin
Anna Sanner (43) war schon immer ein grosser Fan der japanischen Kultur. Sie wollte tiefer eintauchen und nahm eine ungewöhnliche Herausforderung an.

Der Job als Englischlehrerin in Osaka frustrierte sie – also wurde sie Ninja-Kämpferin: Anna Sanner.
Foto: Evelyn Meinecke Fotografie
«Mein Weg zur Ninja begann mit einer Touristenattraktion. Vor 16 Jahren fuhr ich mit zwei Freunden in die japanische Kleinstadt Iga, zwei Stunden von Osaka entfernt. Dort gibt es ein Ninja-Dorf mit einem Museum und Shows, inklusive Waffen, Strassenkünstlertricks und Slapstickeinlagen. Beim Hinausgehen sahen wir den Aushang: ‹Ninja gesucht› und machten Witze, ob das nicht ein Job für mich wäre. Mein japanischer Freund Hiro ermutigte mich und meinte, ich solle mich nach der Position erkundigen. Ich lachte und winkte ab – überzeugt, dass ich als Frau und Ausländerin nicht zur Zielgruppe gehörte. Doch im Grunde war es genau das, was ich suchte: ein Job, in dem ich mein Japanisch nutzen und meine Begeisterung für Kampfkunst ausleben konnte.
Die japanische Kultur fasziniert mich seit meiner Jugend. Nach meinem Studium der Japanologie in Stirling, Tokio und Bath nahm ich in Osaka eine Stelle als Englischlehrerin an. Doch der Job frustrierte mich. Mein Hauptinteresse galt der japanischen Kampfkunst, ihr wollte ich mein Leben widmen. Seit Jahren trainierte ich Karate und Aikido.
Ausserdem fiel es mir schwer, in Japan anzukommen – nicht nur wegen der komplizierten Sprache. Land und Leute erschienen mir anfangs sehr unzugänglich. Das lag an den komplexen Bräuchen, aber auch an der japanischen Maxime, in jeder Situation den Anstand zu wahren und die wahren Gefühle hinter einer lächelnden Maske zu verstecken. Viele Japanerinnen und Japaner sind zudem sehr schüchtern.
«Keine fünf Minuten – dann hiess es, ich könnte Ninjutsu, die Kampfkunst der Ninjas, erlernen.»
Aber nachdem ich meine Heimat Deutschland hinter mir gelassen hatte, gab es kein Zurück. Ich war entschlossen, Japan zu meinem neuen Zuhause zu machen. So beschloss ich, beim Ninja-Meister in Iga nachzufragen, was es mit dem Ninja-Job auf sich hatte. Als er hinter der staubigen Bühne hervortrat und ich ihn nervös nach der ausgeschriebenen Position fragte, sprach er zunächst nur mit meinem Begleiter Hiro, statt mich direkt anzusehen. Das bestätigte mich in meiner Erwartung, dass ich als ausländische Frau keine Respektsperson für ihn war.
Dennoch zeigte sich der Meister aufgeschlossen. Da ich Japanisch und Englisch sprach und viele ausländische Touristen ins Ninja-Dorf nach Iga kamen, konnte er jemanden wie mich gebrauchen. Gleichzeitig warnte er mich. Ich würde mit niederen Arbeiten anfangen, und er würde streng sein. An Putz- und Assistenzarbeiten war ich durch das Karatetraining gewöhnt. Ebenso an strenge Lehrer. Das schreckte mich nicht ab.

Kashira, der strenge Lehrer und Meister von Anna Sanner.
Foto: zvg
Dann wurde abgeklärt, ob ich die körperlichen Voraussetzungen mitbrachte. Ich musste Männer- und Frauenspagat vorführen sowie ein paar andere Übungen, die Dehnbarkeit und Koordination erforderten. Der Test dauerte keine fünf Minuten, dann hiess es, ich könnte Ninjutsu, die Kampfkunst der Ninjas, erlernen.
Historische Geheimagenten
Historisch gesehen waren Ninjas einst Geheimagenten während der Sengoku-Zeit (1477–1573). Heute sind sie als Kampfkunsthelden mit übernatürlichen Fähigkeiten zum populären Mythos geworden und erfreuen sich dank Büchern, Filmen und Mangas grosser Beliebtheit. ‹Echte› Ninjas gibt es nicht mehr. Nur Action-Schauspieler, die sich wie in Iga als Kämpfer verkleiden und das Publikum mit ihren Künsten unterhalten.
Fortan fuhr ich jedes Wochenende zweieinhalb Stunden mit dem Bus nach Iga. Wie angekündigt, musste ich erst einmal fegen, putzen, den Ninjas ihre Waffen hinterhertragen, zwischen den Vorführungen, die mehrmals täglich stattfanden, die Bühne aufräumen und die Requisiten richten – das alles für einen minimalen Lohn. Häufig dolmetschte ich für ausländische Besucher. Nach einigen Wochen durfte ich die Begrüssungsrede vor der Show halten. Für mich war das wegen des langen Textes in höflichem, altmodischem Japanisch eine besondere Hürde.
Dieses ‹Fussabtreter›-Dasein zog sich über viele Monate hin. Zum Trainieren blieb nie viel Zeit, und Unterricht im konventionellen Sinne gab es nicht. Zwischendurch zeigte mir der Meister höchstens ein paar Drills mit dem Schwert oder schickte mich zum Stimmtraining zu seinem Sohn. Er sagte, ich müsse bloss alles genau beobachten und imitieren. Das sei in Japan Tradition, und ich könne mich glücklich schätzen, eine so wertvolle Erfahrung machen zu dürfen. Trotzdem hätte ich mir mehr formales Training gewünscht. Die Abläufe schienen mir zu zahlreich und zu komplex – von den Risiken im Umgang mit den Waffen ganz zu schweigen. Wie sollte ich die Kampfkunst der Ninjas je vom Zusehen erlernen?

Nach einem Jahr gab Anna Sanner ihr Bühnendebüt als Seilkampf-Ninja.
Foto: Uchinoura-san
Meine erste Choreografie übte ich über Wochen hinweg. Es handelte sich um eine Szene, in der ich mich mit einem Seil gegen den Sohn des Meisters verteidigen musste, der mit dem Schwert auf mich losging. Die Disziplin, bei der man das Seil zum Schlagen, Würgen, Fesseln und Entreissen der Waffe verwendet, nennt sich Hobakujutsu.
Allein das Seil in einer ordentlichen Acht um meinen Körper zu schwingen, ohne einen der Knoten ins Gesicht zu bekommen, kostete mich Monate. Ich schlug mich immer wieder aus Versehen selbst, fluchte und litt.
«Wenn meine Freunde mich fragten, warum ich mir das antat, hatte ich manchmal keine Antworten mehr.»
Viel mehr noch als die körperlichen Strapazen aber belastete mich der psychische Druck. Nach über einem Jahr gab ich mein langersehntes Debüt als Seilkampf-Ninja auf der Bühne. Beim Publikum kam die Nummer gut an, aber mein Meister war nie zufrieden. Überhaupt war er sehr launisch. Meine Freunde schüttelten den Kopf, wenn sie meine blauen Flecken sahen oder wieder einmal Berichte über seine cholerischen Anfälle hörten. Wenn sie mich fragten, warum ich mir das antat, hatte ich manchmal keine Antworten mehr.
Trotzdem machte ich weiter. Ein Jahr und drei Monate hielt ich durch – bis ich die Launen und leeren Versprechen meines Meisters eines Tages nicht mehr hinnehmen wollte. Ich beschloss, die Ninja-Ausbildung abzubrechen.
Auch wenn ich mich letztlich gegen ein Leben als Bühnen-Ninja in Japan entschieden habe, betrachte ich meine Lehre als Erfolg. Erstens, weil ich eine spannende Geschichte erlebt habe, die ich im Buch ‹Wie man in Japan Ninja wird› (2022) niedergeschrieben habe. Zweitens, weil ich durch meine Zeit in Iga viele Aspekte der japanischen Kultur und Sprache kennen gelernt habe, die mir sonst verborgen geblieben wären. Ich bekam Übung darin, auf einer Bühne vor Menschen zu stehen und – unter anderem – zu dolmetschen, was mittlerweile eine meiner wichtigsten beruflichen Tätigkeiten darstellt. Heute lebe ich als freie Übersetzerin, Dolmetscherin und Autorin mit meinem Mann und unseren beiden Kindern in Deutschland.
Mein Meister hat mir vor allem eines beigebracht: Irgendwann ist Schluss. Viel aushalten zu können, kann nützlich sein, aber man darf sich nicht alles gefallen lassen.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.