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Schon 10 Femizide in diesem Jahr – eine Expertin erklärt, wieso es diesen Begriff braucht

Interview

Am vergangenen Wochenende ereignete sich in der Schweiz der 10. Femizid dieses Jahres. Wieso nennt man es Femizid und nicht einfach Mord? Was eigentlich ist ein Femizid genau und weshalb braucht es diesen Begriff? Wir haben mit einer Expertin darüber gesprochen.

Frau Lavoyer, was ist ein Femizid?
Agota Lavoyer: Die kürzeste Definition: Es ist ein geschlechtsbezogenes Tötungsdelikt an weiblich definierten Personen. Dabei geht es nicht nur um das Geschlecht der getöteten Person, sondern um die Motivation dahinter. Diese geht auf misogyne und sexistische Haltungen des Täters zurück. Bei einem Femizid handelt es sich also nicht bloss um eine Zufallstötung.

Agota Lavoyer

Agota Lavoyer.Bild: Timo Orubolo

Femizide geschehen häufig in Beziehungen, weshalb dann unter anderem von «Beziehungsdelikten» gesprochen wird. Auf Twitter prangern Sie diese Berichterstattung immer wieder an. Wie unterscheidet sich ein Femizid von einem Beziehungsdelikt?
Der Begriff Beziehungsdelikt dürfte eigentlich gar nicht verwendet werden. Er beinhaltet einen der mächtigsten Mythen in Bezug auf häusliche Gewalt. Häusliche Gewalt ist kein Beziehungsproblem. Man impliziert damit, dass die Frau eine Beziehung beenden kann und das Problem damit weg ist. Doch das Problem ist nicht die Beziehung, sondern der gewalttätige Mann. Man weiss mittlerweile, dass die Frau oft in noch grösserer Gefahr ist, wenn sie die Beziehung beendet.

Zur Person

Agota Lavoyer arbeitet als Beraterin, Supervisorin und Referentin im Bereich häusliche und sexualisierte Gewalt. Weiter ist sie Autorin eines Bestsellers zur Prävention sexualisierter Gewalt an Kindern und schreibt regelmässig Kolumnen und Gastbeiträge.

Zudem engagiert sie sich aktiv in den sozialen Medien, wo sie über geschlechtsspezifische Gewalt aufklärt, sensibilisiert und enttabuisiert.Bevor sie sich selbstständig gemacht hat, hat sie als Opferhilfeberaterin und Leiterin einer Opferhilfestelle gearbeitet.

Wäre dann nicht die Trennung das Motiv?
Es wird häufig ungenau berichtet. Man darf Auslöser nicht mit Motiv verwechseln. Eine Trennung kann für eine Tötung ein Auslöser sein, ist aber nicht der Grund. Der Tötung zugrunde liegt der Besitzanspruch des Mannes. Die letzte Steigerung davon ist die Tötung – dadurch erreicht er die komplette Kontrolle über die Frau und niemand sonst kann sie «haben». Das ist letztendlich das Motiv und das ist geschlechtsbezogen.

Es gibt viele eifersüchtige Männer, oder solche, die Frauen als minderwertige Wesen betrachten. Es gibt sogar eine ganze Subkultur von Incels, die aus ihrem Frauenhass keinen Hehl machen. Sie bringen deswegen nicht zwingend Frauen um. Wieso greifen einige dieser Männer zu tödlicher Gewalt und andere nicht?
Um diese Frage beantworten zu können, müsste man in der Schweiz die Motive und sozialen Kontexte von Femiziden detailliert untersuchen. Ich würde mir wünschen, dass man Femizide mit der gleichen Intensität zu verhindern versuchen würde, wie beispielsweise terroristische Attentate. Es ist ein Mythos, dass es sich bei einem Femizid um eine spontane Tat handelt, weil der Mann sich nicht mehr unter Kontrolle gehabt hätte.

Sondern?
Femizide sind fast immer geplante Taten und wären oft vorhersehbar. Diese Männer haben sich komplett unter Kontrolle und wenden Gewalt an, um gegen ihre Ohnmacht anzukommen. Die britische Kriminologin Jane Monckton Smith hat über 300 Femizidfälle untersucht und kommt zum Schluss, dass die Taten verhinderbar wären, weil die Täter oft durch ähnliche Verhaltensweisen auffallen, unter anderem einer massiven Kontrollsucht. Das Motiv geht auf patriarchale Machtstrukturen zurück, auf die Haltung der Täter, dass sie die Frauen besitzen und ihnen ultimative Kontrolle zusteht. Man könnte annehmen, dass wir als moderne Gesellschaft patriarchale frauenabwertende Haltungen überwunden hätten, aber die häusliche Gewalt wird nicht weniger.

Gibt es dafür eine Erklärung?
Es ist ein Paradox: Je mehr die Gleichberechtigung voranschreitet, desto mehr Männer fühlen sich davon bedroht und desto mehr Frauen erleben Gewalt. Es gibt viele Männer, die dazu bereit sind, auf bisher nur ihnen gewährte Privilegien zu verzichten oder diese zu teilen. Aber es gibt auch Männer, die das nicht sind.

Wie äussert sich das im Verhalten?
Nach Susanne Kaiser kann man Männer grob in drei Kategorien aufteilen. 1. Feministische Männer, die bereit sind, auf Privilegien zum Wohl der Gleichberechtigung zu verzichten. 2. Offen frauenverachtende Männer, wie beispielsweise Incels. 3. Männer, die nach aussen hin einen feministischen Eindruck machen, zu Hause aber nicht damit umgehen können, wenn die Frau mehr verdient, Sex verweigert oder Ansprüche stellt, die früher nicht gestellt wurden. Im Kontext von häuslicher Gewalt heisst es dann oft, dass diese Männer gegen aussen unauffällig gewesen seien.

Ist das bei Gewalt von Männern gegenüber Männern anders?
Männer, die Männer töten, sind viel häufiger auffällig. Zu Tötungen kommt es meist bei Auseinandersetzungen und nicht in Beziehungen. Dabei ist oft Alkohol- oder Drogenmissbrauch im Spiel und dass Täter bereits mehrere Vorstrafen haben, ist nicht unüblich. Bei Femiziden ist das offenbar nicht oft der Fall. Erste Untersuchungen dazu werden in der Schweiz 2024 publiziert. Deshalb ist dann die Reaktion vorwiegend: «Das hätte niemand gedacht». Das sollte uns erst recht alarmieren.

Wie ist das möglich?
Häusliche Gewalt fällt von aussen häufig nicht auf. Früher schaute man in der Öffentlichkeit noch eher weg, doch heute wissen die Männer, dass Gewalt im Versteckten laufen muss. Sie können den Frauen nicht mehr einfach so ein blaues Auge verpassen. Stattdessen greifen sie immer mehr zu psychischer und sexualisierter Gewalt, denn diese hinterlässt weniger Spuren. Und genau dadurch wird häusliche Gewalt immer unsichtbarer.

Häusliche Gewalt

Häusliche Gewalt spielt sich vor allem im Versteckten ab.Bild: shutterstock

Es gibt Stimmen, die sagen, dass Männer halt grundsätzlich gewalttätiger seien und dass das nichts mit dem Geschlecht der Frau zu tun habe.
Nein, das stimmt definitiv nicht. Nur weil ein Mensch mit Penis geboren und als Mann definiert wird, ist er deswegen nicht gewalttätiger. Das weiss man heute auch. Es ist das patriarchale Bild von Männlichkeit, das gewalttätig ist.

Was für ein Bild ist das?
Auch wenn es sich heute aufweicht: Aufwachsenden Buben wird gesagt, sie müssen stark sein, sie dürfen keine Schwäche zeigen. Schwäche sei etwas Weibliches und damit Schlechtes und Verachtenswertes. Den Mädchen hingegen wird gesagt, dass sie das schwächere Geschlecht seien. Sie sollen nachgiebig und hilfsbereit sein. In unserer Gesellschaft gelten solche weiblich konnotierten Eigenschaften – «weibliche Eigenschaften» gibt es nicht – als weniger wert.

Mit welchen Auswirkungen?
Buben beziehungsweise Männer sollen zwar Frauen begehren, gleichzeitig verachten sie aber «weibliche» Eigenschaften und damit auch Frauen. In dieser Widersprüchlichkeit wachsen sie auf und das ist es, was schlussendlich zu Gewalt führt.

Gibt es weitere Beispiele dafür?
Buben sollen auf keinen Fall mit Barbies, sondern mit männlichen Figuren, zum Beispiel Hulk, spielen. Wehe aber, sie wachsen auf und begehren tatsächlich männliche Muskelprotze. Schwule Männer gelten im Patriarchat als «zu weibliche» Männer und werden deswegen abgewertet. In Männlichkeitsvorstellungen gibt es so viel Widersprüchliches. Man mag denken, heute sei das anders, aber das ist es nicht. Viele Eltern denken, sie seien progressiv, sind sich aber nicht bewusst, dass sie ihre Kinder immer noch nach geschlechtsspezifischen Stereotypen erziehen. Buben erhalten für Verhalten Anerkennung, die ihre Autonomie fördern, wie Klettern oder ein Lego alleine zusammenbauen. Mädchen werden gelobt, wenn sie lieb sind, im Haushalt helfen oder auf ihre Geschwister aufpassen.

Wie äussert sich diese Erziehung in Bezug auf Gewalt?
«Männlich sein» ist im patriarchalen Verständnis eng mit «Kontrolle haben» verbunden. Wann ist ein Mann ein Mann? Wenn er alles unter Kontrolle hat. Wenn Männer gesellschaftlich die Kontrolle verlieren, weil vermehrt auch Frauen das Sagen haben, dann trifft sie das in ihrem männlichen Selbstverständnis. Um diesem Kontrollverlust entgegenzuwirken, greifen manche zu Gewalt. Gewalt wird immer noch als etwas sehr Männliches dargestellt. Zum Beispiel im Film: Wenn die Frau wütend ist, weint sie. Der Mann wird gewalttätig, schmeisst einen Stuhl an die Wand. Kann Wut heute nicht anders dargestellt werden? In solchen Filmen wird gezeigt: So sind Männer, sie werden halt aggressiv. Dieses Verhalten wird nicht hinterfragt, sondern als unveränderbar hingenommen. Das zementiert toxische Männerbilder.

Inwiefern spielen psychische Probleme bei Femiziden eine Rolle? Ich denke an den Fall Yverdon, als ein Mann seine Frau, seine zwei Töchter und sich selbst getötet hat. Steckt da nicht noch mehr dahinter als Frauenverachtung?
Man darf nicht denken, dass alle Täter psychopathisch veranlagt seien. Das wären ansonsten schwer kranke Menschen und das ist nur bei einem kleinen Teil der Täter der Fall. Üblicherweise sind es Männer, die als unauffällig beschrieben werden. Das sind Männer, die sich unter Kontrolle haben und nicht einfach links und rechts reinschlagen. Im Gegenteil: Sie wissen haargenau, wie sie sich verhalten müssen. Es hat nichts mit Kontrollverlust, sondern mit Machtverlust zu tun, der mit Gewalt entgegengewirkt wird.

Wo liegt denn das tatsächliche Problem?
Mit der Frage nach psychischen Krankheiten oder Problemen lenkt man davon ab, dass es sich im Grunde um ein strukturelles Problem handelt. Ansonsten müsste man ja auch sagen, dass es häusliche Gewalt nur deswegen gibt, weil all diese Männer psychische Krankheiten haben. Aber es gibt ja keine Krankheiten, die Männer eher gewalttätig machen. Man will einfach nicht anerkennen, dass diese Taten aus Frauenverachtung entstehen. Und dass Frauenverachtung immer noch tief in unserer Gesellschaft verankert ist. Das zu erkennen, wäre aber wichtig, um Femizide zu verhindern.

Gutes Stichwort: Wie können Femizide verhindert werden?
Dazu muss man sich mit verschiedenen Fragen auseinandersetzen: Wieso gibt es so viele Männer, die sich dazu berechtigt fühlen, Gewalt anzuwenden? Wie können wir an Geschlechterrollen arbeiten? Wie können wir Abhängigkeitsverhältnisse verringern? Wie können wir schon mit Kindern über Gleichstellung und Männlichkeit reden? Wir müssen vom Mythos wegkommen, dass sich Frauen anpassen oder den Mann verlassen müssen, um Gewalt zu verhindern. Das Problem ist damit nicht gelöst.

Was kann konkret getan werden?
Wir brauchen dringend eine regelmässige, detaillierte Datenerhebung und Fallanalysen zu Femizid. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern hinkt die Schweiz hier hinterher. Eine Datenerhebung wäre wichtig, weil man damit gesellschaftliche Macht- und Gewaltstrukturen deutlich machen könnte. Man müsste genauer hinschauen: Welche Motive stecken hinter den Femiziden? Wie hat sich dabei die Frauenfeindlichkeit und das Machtgefälle gezeigt? Das müsste man alles aufarbeiten und daraus lernen. Schlussendlich geht es ja darum, die Taten zu verhindern. Und das kann man erst, wenn man weiss, wie es dazu kam. Es fehlt in der Schweiz aber der politische Wille, genügend Ressourcen zu sprechen, damit geschlechtsspezifische Gewalt angegangen werden kann.

Wenn Femizide thematisiert werden, werden immer wieder auch Aufschreie laut, dass man dann ja auch von Androziden sprechen müsse. Töten Frauen Männer denn ebenfalls aus geschlechtsbezogenen Motiven?
Nein. Wir haben ein gesellschaftliches Problem mit männlicher Gewalt gegenüber Frauen. Das ist heute sehr gut belegt. Wir haben nicht das Problem, dass Frauen das Gefühl haben, einen Mann kontrollieren, besitzen zu müssen und Gewalt als wirksames Mittel sehen, um das durchzusetzen. Das tönt schon absurd. Das ist einfach nicht unsere Gesellschaft. Das hat auch die Kriminalstatistik aus dem Jahr 2020 gezeigt. Die Kriminologin Nora Markwalder erklärte Anfang 2021 gegenüber «10 vor 10», dass die Tötungsdelikte in der Schweiz in den letzten Jahren zwar abgenommen hätten, die Tötungsdelikte an Frauen aber gleich geblieben seien. Das zeigt, dass die Situation für Frauen bisher nicht besser geworden ist. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Femizide nur die Spitze des Eisbergs sind.