Nachbarländer greifen in der Corona-Krise durch und lassen sich von föderalen Befindlichkeiten nicht bremsen. Dieses Vorgehen mag zum Selbstverständnis von Staatspräsidenten oder Regierungschefs passen, nicht aber zur politischen Kultur der Schweiz.

Leere Strassen in Paris: Nachbarländer wie Frankreich beschliessen mit neuen Lockdowns drakonische Massnahmen.
Bunt sind sie, die Flickenteppiche, die aus Stoffresten gefertigt werden. Die einzelnen Flicken werden dabei zu einem stabilen Ganzen verwoben. Unebenheiten gehören dazu und geben dem Teppich seinen Charme. «Flickenteppich» ist jedoch auch die Schmähung derjenigen, die den Föderalismus abwerten wollen, die in ihm einen lästigen, schwer zu bändigenden Verbund von kleinen «Fürstentümern» sehen. Es ist diese negative Konnotation, die in der Corona-Krise Hochkonjunktur hat: Während 2019 der Begriff Flickenteppich 600 Mal in der Schweizer Mediendatenbank auftaucht, sind es im bisherigen Jahresverlauf schon 3700 Mal.
Länder wie Frankreich oder jüngst auch Österreich und Deutschland greifen jedenfalls in der Corona-Krise durch und lassen sich von föderalen Befindlichkeiten nicht bremsen. Es werden neue Lockdowns beschlossen. Dies mag zum Selbstverständnis eines Staatspräsidenten oder einer Kanzlerin bzw. eines Kanzlers passen. Für eine Kollegialbehörde wie den Bundesrat, der selbst ein Patchwork ist mit seinen verschiedenen Zugehörigkeiten zu Parteien und Sprachgebieten, ist ein solch drakonisches Verhalten dagegen nicht die erste Wahl, und es passt nicht zur politischen Kultur der Schweiz.
Es ist deshalb nachvollziehbar, dass die Schweiz in der zweiten Corona-Welle stärker als in der ersten auf dezentrale Lösungen setzt und sich der Forderung vieler (vorerst) verschliesst, das Wirtschaftsleben ganz stillzulegen. Kantone mit hohen Ansteckungszahlen wie Genf, das Wallis oder jüngst Basel-Stadt haben indessen bereits deutlich strengere Massnahmen verfügt als etwa Zürich oder der Thurgau.
Wenn einzelne Regionen stärker von einer Krise betroffen sind als andere, empfiehlt sich ein solch abgestuftes Vorgehen, das das Wissen vor Ort nutzt. Versetzt man nämlich nicht die ganze Schweiz in einen Lockdown, kann zumindest an gewissen Orten das (Wirtschafts-)Leben weitergehen, wenn auch nicht auf allen Zylindern. Dies schützt die dortigen Einkommen.
Und wenn nicht die ganze Schweiz heruntergefahren wird, steht auch mehr Geld zur Verfügung, um für einen gewissen Ausgleich zu sorgen. Die Ökonomen Lars Feld, Christoph Schaltegger und Janine Studerus haben kürzlich gezeigt, dass in der Schweiz immerhin 20 Prozent der Einkommensunterschiede unter den Kantonen durch fiskalische Massnahmen – direkte Bundessteuern, Sozialversicherungen und den Finanzausgleich – ausgeglichen werden. Auch in der föderalistischen Schweiz gibt es also einen gewissen Versicherungsschutz. Gewiss, in Ländern wie Deutschland wird doppelt so viel umverteilt, aber das ist angesichts eines viel grösseren Fussabdrucks des Staates auch zu erwarten.
Die Schweiz verbindet somit, so darf man die Forschungsergebnisse deuten, hohe lokale Autonomie mit einer doch beträchtlichen Risikoteilung. Für die föderalen USA hat man zudem etwas herausgefunden, was auch für die Schweiz zutreffen dürfte: Ein guter Teil der konjunkturellen Schwankungen wird über flexible Kapital- und Arbeitsmärkte abgepuffert. Wenn also zum Beispiel eine Firma in einem Teil des Landes leidet, verteilt sich der Schaden auch auf Kreditgeber und Eigentümer, die anderswo zu Hause sind.
Angesichts der Schweizer Erfahrungen mit dem Föderalismus verwundert der Aufruf ein wenig, in dem rund 70 Ökonominnen und Ökonomen unlängst einen flächendeckenden Lockdown für die Schweiz gefordert haben. Bei zentralistischen Lösungen werden alle vermeintlich gleich behandelt, doch ist dies bei unterschiedlichen Ausprägungen einer Krise weder gerecht noch effizient. Aber zurück zum originalen Flickenteppich: Ein Hersteller wirbt damit, dass dieser extrem strapazierfähig sowie robust sei und satt am Boden liege. Wenn das keine Werbung für einen bodenständigen Föderalismus ist.