Über die Boulevards zu flanieren, ist momentan nicht möglich. Zum Glück gibt es wunderbare Bücher, die uns aus der Ferne in die unvergleichliche Stadt eintauchen lassen.

Die Strassen sind leer, der Eiffelturm immerhin leuchtet noch: Paris im Oktober 2020.
Jetzt wäre die beste Zeit für Spaziergänge durch Paris. Laut und hektisch und «lichtschleudernd», wie Thomas Mann sie nach seinem Besuch im Jahr 1926 in Erinnerung behielt, ist die Stadt zwar auch im Herbst und sicherlich nicht weniger als in den 1920er Jahren. Aber die dunkle Jahreszeit schärft die Konturen der «ville lumière» und lässt die Kontraste deutlicher hervortreten: zwischen der unermüdlichen Betriebsamkeit auf den Boulevards und den verwaisten Alleen in den Tuilerien, zwischen dem Gedränge feiernder Menschen im Marais und der eigenartigen Stille des Jardin des Plantes, unter dessen uralten Bäumen der Lärm der Stadt nur als entferntes Rauschen zu hören ist.
Aber in diesem Jahr ist alles anders, Paris ist in diesem Herbst zu einem unerreichbaren Ziel geworden. Bilder von überfüllten Krankenhäusern würden das Flanieren durch die stillen Strassen der Stadt zu einem geradezu zynischen Erlebnis werden lassen – wenn es aufgrund von Ausgangssperren nicht schon ganz verboten wäre. Auch vor einigen Wochen war es bereits merkwürdig, sich durch den von Lou Andreas Salomé so geliebten «Strudel dieser einzigschönen Stadt» treiben zu lassen angesichts schwer bewaffneter Soldaten, die den Menschen eine trügerische Sicherheit vor mordenden Terroristen vermittelten.
Wo ist es hin, das unbeschwerte Paris-Erlebnis, das darin bestand, sich auf Spaziergängen zwischen Buttes Chaumont und Montparnasse, zwischen Neuilly und Bois de Vincennes die vielen Facetten dieser Stadt zu erlaufen und sich jenseits der breiten Boulevards «das alte Paris» vorzustellen, das Baudelaire in einem seiner berühmtesten Gedichte bereits vermisst?
Das alte und das gegenwärtige Paris sind heute gleichermassen fern. Von der Stadt, die mehr als jede andere die Bruchstellen der Geschichte zeigt, können wir nur noch lesen, zum Beispiel bei Walter Benjamin. Er hatte Paris zur Hauptstadt des 19. Jahrhunderts erklärt – aber konzentrieren sich hier mit sozialen Verwerfungen und dem Kulturkampf um Religion und Freiheit nicht auch die grossen Konflikte unseres, des 21. Jahrhunderts?
Die Wissenschaft des Flanierens
Benjamin wird nicht zuletzt wegen seines in Paris entstandenen Passagen-Werks oftmals als Prototyp des Flaneurs betrachtet – wobei tunlichst ausgeblendet wird, dass für die meisten der deutschen Paris-Flaneure die Stadt an der Seine ein unwirtlicher und gefährlicher Zufluchtsort war. Doch haben Benjamin oder Joseph Roth, Kurt Tucholsky oder Alfred Döblin und viele andere deutsche Exilanten, die zum literarischen Gedächtnis von Paris gehören, viel zum Mythos dieser Stadt beigetragen, die bei aller Fremde als faszinierend und inspirierend wahrgenommen wurde.
Aber worin besteht denn der Mythos von Paris, den der Romanist Karlheinz Stierle in seinem gleichnamigen Buch beschwor? Ist es die Lesbarkeit der Stadt, in der sich die Erinnerungen an alle Versprechungen, aber auch an die Schrecken der Moderne aufspüren lassen? Oder besteht der Mythos von Paris gerade darin, dass diese Stadt wie keine andere zum Flanieren einlädt? Zu dieser Tätigkeit, von der Balzac sagte, dass sie wie eine Wissenschaft sei, ja «die Feinschmeckerei des Auges: Spazierengehen ist vegetieren, Flanieren ist leben!»
Dabei ist das Flanieren durch Paris niemals nur ein leichter und unbeschwerter Streifzug durch die Stadtlandschaft: Die erhabene Schönheit, die sich beim Blick vom Pont des Arts auf die Silhouette über der Seine oder vom Quai Henri IV. auf die uralten Fassaden der Ile Saint-Louis offenbart, kontrastiert immer wieder mit den Rätseln und Abgründen der Geschichte, an die unzählige oft unscheinbare Schilder und Tafeln erinnern.
Heinrich Heine erlebte das Paris des 19. Jahrhunderts wie ein offenes Buch über «alles, was gross ist durch Liebe oder Hass, durch Fühlen oder Denken, durch Wissen oder Können, durch Glück oder Unglück, durch Zukunft oder Vergangenheit». Und 1930 schrieb Sigfried Kracauer in einem Brief, dass er in Frankreich und besonders in Paris immer wieder bemerke, «was alles in Deutschland zerstört ist: der primitive Anstand, die ganze Natur und mit ihr jedes Vertrauen der Menschen ineinander».
Unsichtbare Grenzen aufspüren
Wie gerne würde man auf Spaziergängen solchen Eindrücken nachspüren! Nein, das Flanieren an der Seine geht in diesem Herbst nun einfach nicht, aber zum Glück nimmt es mit wunderbaren Büchern über die Stadt bis heute kein Ende. Alain Rustenholz’ «Traversées de Paris» (2004) oder Karl Heinz Götzes «Immer Paris» (2002) sind genauso zu empfehlen wie die kürzlich mit eindrucksvollen Fotos neu aufgelegte «Erfindung von Paris» von Eric Hazan (Verlag Matthes & Seitz, 2020).
Ähnlich wie in Victor Hugos Romanen und Baudelaires Poesie erscheint Paris bei Hazan wie ein menschliches Individuum, weshalb seine fast 600 Seiten mit einer «Psychogeografie der Grenze» anheben können. Mit feinen Beobachtungen macht Hazan seine Leser auf die unsichtbaren Grenzen zwischen den Vierteln von Paris aufmerksam, die uns erst dann bewusst werden, wenn wir sie längst überschritten haben: etwa diejenige zwischen Montmartre und der Goutte d’Or oder jene, die sich um das Marais-Viertel gelegt hat, oder aber die zwischen dem 16. Arrondissement, wo die Haute Bourgeoisie logiert, und dem Bois de Boulogne.
Wenn die Reise nach Paris mit realen Blicken und Eindrücken und Geräuschen unmöglich wird, kann ein Buch wie «Die Erfindung von Paris» zum Kopfkino werden, aber auch zur Zeitreise, die jeder reale Streifzug durch Paris immer ist. Dabei zeichnet Hazan, der 1936 in Paris als Sohn einer Palästinenserin und eines Ägypters geboren wurde und mit kurzer Unterbrechung sein ganzes Leben hier verbrachte, alles andere als ein nostalgisches Bild seiner Geburtsstadt. Sein Thema sind die verborgenen und die heftigen Schübe von Selbstfindung und Selbsterfindung einer Stadt, die Menschen immer wieder zur Heimat werden konnte, weil sie niemals in einem Klischee erstarrte – jedenfalls nicht für ihre Bewohner.
Auf die Frage, warum er über Frankreich schreibe, antwortete der deutsche Journalist Friedrich Sieburg einmal, dass er sich in einem «unordentlichen und altmodischen Paradies» lieber aufhalte als in einer «blitzblanken und trostlosen Musterwelt». Solche Klischees sind weit verbreitet, Eric Hazan aber bedient die Nostalgie derer, die in Paris das Altmodische suchen, in keiner Weise. Er gibt ihnen vielmehr zu bedenken, «dass in Paris das Spiel noch lange nicht vorbei ist». Denen, die die Stadt für ein grosses Museum halten, hält Hazan ein anderes Paris-Bild entgegen: das einer Stadt in ständiger Bewegung und Erneuerung. Und dieses Bild ist so lebendig gezeichnet, dass es fast eine Reise an die Seine ersetzt – aber eben nur fast!