Lehr- und Lernprozesse können gut mithilfe von Videokonferenzen organisiert und begleiten werden; allerdings muss hierzu ihr Potenzial auch tatsächlich ausgeschöpft werden. Digitale Formate bleiben auch in der Zeit nach Corona wichtig.

Das Auge lernt mit – Lernprozesse werden durch Visualisierung wesentlich unterstützt.
Im seinem Gastkommentar «Die Videokonferenz als Bühne der Unpässlichkeit» beleuchtet Michael Jäckel einige Schwierigkeiten, die bei der Nutzung des Mediums «Videokonferenz» auftreten können. Alle, die schon an einer solchen Konferenz teilgenommen haben, dürften zustimmen: Die Kommunikation verläuft ein Stück weit unpersönlicher als in einer Präsenzsituation, die technische Nutzung des Mediums ist teilweise mangelhaft, und eine gleichsam existenzielle Verlorenheit beim Austausch mit «Videorechtecken» kann sich schnell einstellen.
Die Videokonferenz ist aber durchaus ein Arbeitsinstrument mit viel Potenzial, gerade im Bildungskontext. Dieses wird freilich noch wenig abgerufen. Ein Grund ist, dass der Präsenzunterricht nicht selten als Mass aller Dinge gesehen wird. Dabei geht gerne vergessen, dass die Probleme, die sich in einer Videokonferenz ergeben – ungeordnetes Diskutieren, zwischenzeitliche Unaufmerksamkeit, ja selbst unangemessenes Auftreten – auch in realer Gegenwart stellen. Bei dieser Sichtweise lohnt sich der grosse Aufwand, der für ertragreiche Videokonferenzen betrieben werden muss, nicht: Denn eines Tages, so die Überzeugung, werden Unterricht und Lehre wieder in Präsenzform stattfinden können.
Gelingensbedingungen
Doch zum einen dauert die Covid-19-Pandemie an und damit auch die Online-Lehre an den Hochschulen. Zum anderen wird die Videokonferenz auch über die Pandemie hinaus ihren Platz in der Bildung beanspruchen: Längerfristig werden sich an den Hochschulen, aber auch auf der Ebene der weiterführenden Schulen Formate durchsetzen, die Präsenzlehre mit Online-Phasen und also digitales und analoges Arbeiten in sinnvoller Weise kombinieren. Aus diesen Gründen lohnt sich ein genauer Blick auf die Bedingungen, unter denen Videokonferenzen im Bildungskontext gelingen.
Es sind unserer Erfahrung nach in erster Linie fünf Faktoren, die auf der Mittel- und Hochschulstufe dazu führen, dass Videokonferenzen erfolgreich verlaufen:
1. Lernende wollen gefördert und gefordert werden. Lange Wartezeiten in schlecht organisierten Online-Settings sind hier besonders kontraproduktiv. Demgegenüber sind die relativ straffe Organisation einer Videokonferenz, eine Moderation, die Gesprächsregeln und eine verbindliche Netiquette vorgibt, eine sinnvolle Rhythmisierung mit Wechsel von Plenums-, Gruppen- und Einzelarbeitsphasen, zeitnahes Feedback, eine gewisse Wahlfreiheit für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie genügend lange Pausenzeiten dem Lernen förderlich; all diese Aspekte werden von den Lernenden sehr geschätzt.
2. Eine klare Strukturierung sowohl der Lerninhalte wie auch der Lernmodalitäten ermöglicht Orientierung und ist daher wesentlich für den Wissens- und Kompetenzerwerb. Besonders hilfreich sind im Online-Kontext sogenannte Kooperationsskripts – worauf die Forschung notabene schon vor rund zwanzig Jahren hingewiesen hat. Diese geben die inhaltlichen oder interaktionsbezogenen Abläufe für die Zusammenarbeit in Gruppen vor.
3. Lernprozesse werden durch Visualisierung wesentlich unterstützt. Gerade Videokonferenzen sind aber nicht selten sehr gesprächslastig. Sie sollten daher durch passende Visualisierungselemente – gut gestaltete Skizzen, auf die Lerneinheit abgestimmte Powerpoint-Slides, Formen der bildlichen Texterschliessung oder prägnante Filmausschnitte – begleitet werden. Diese erlauben eine Fokussierung des Austauschs und des Gesprächs.
4. Lernende wollen sich als Teil einer Lerngemeinschaft erleben. Lehrende sollten daher auch in Videokonferenzen immer wieder die Ebene der Lerngruppe berücksichtigen. Warm-ups oder Gruppenbildungsaktivitäten sind hier ein Weg, um das Gemeinschaftsgefühl zu erhöhen. Noch wichtiger sind kooperative Elemente, in denen Lernende inhaltlich zusammenarbeiten, sich dabei nicht nur austauschen, sondern auch gemeinsam etwas herstellen, das anschliessend als Lernressource genutzt werden kann.
5. Damit sind wir beim fünften und wichtigsten Punkt: Lernende wollen ihre Kompetenzen zeigen und zur Diskussion stellen können. Es ist daher sehr sinnvoll, sie mit eigenen Produkten in den Lehr- und Lernkontext einzubinden. Dies kann – hier ein Beispiel aus dem Mittelschulunterricht – so umgesetzt werden, dass die Lernenden im Internet nach Zeitungsartikeln zu einem bestimmten Thema – etwa den gesellschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie – recherchieren.
In einem zweiten Schritt einigen sie sich in der Gruppe auf ein Fundstück und präsentieren es nach klaren Vorgaben auf einer Onlineplattform. Danach sichten alle die zur Auswahl stehenden Vorschläge und stimmen für ihren Favoriten ab. Im Anschluss daran wird der gewählte Beitrag gemeinsam erarbeitet. Orientierung für dieses Verfahren, das auf die Herstellung von eigenen Beiträgen und ihre Einbindung in den Unterrichtskontext zielt, liefert das Dialogische Lernmodell nach Urs Ruf und Peter Gallin (1998).
Autonomie und Selbstbestimmung
Sind die genannten Gelingensbedingungen realisiert, so dürften die drei grundlegenden Bedürfnisse von Lernenden, welche die Psychologen Edward L. Deci und Richard Ryan in ihrer wegweisenden Selbstbestimmungstheorie der Motivation herausgestellt haben und die für erfolgreiches Lernen zentral sind, auch in einem Lehr- und Lernkontext, der auf Videokonferenzen zurückgreift, erfüllt sein: das Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung (weil die Lernenden gewisse Wahlfreiheiten haben und in einzelnen Phasen selbständig arbeiten), das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit und Zugehörigkeit (weil immer wieder Produkte in Gruppen erarbeitet werden) sowie das Bedürfnis nach Kompetenz und Wirksamkeit (weil die Produkte in den Unterricht eingespielt werden und sich in diesem Rahmen bewähren müssen). Derart umgesetzt, erweist sich die Videokonferenz als ein probates Medium, um schulisches oder universitäres Lehren und Lernen zu organisieren und zu begleiten.
Stefan Hofer-Krucker Valderrama ist Deutsch- und Spanischlehrer an der Kantonsschule Enge in Zürich und Fachdidaktiker für Deutsch an der Universität Zürich. Rémy Kauffmann ist Geschichtslehrer an der Kantonsschule Baden. Zusammen haben sie den Band «Neue Medien – neuer Unterricht?» (2019) publiziert. Simon Meisch lehrt am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen und ist dort für die Koordination der interdisziplinären Ethiklehre zuständig.