Nach Mordanklage gegen PolizistenLondoner Polizisten legen aus Protest ihre Schusswaffen nieder
Grund für den Verzicht aufs Waffentragen ist eine Mordanklage, die gegen einen Polizisten erhoben wurde. Die Regierung hat die Bereitstellung von Armeeeinheiten angeordnet.

Protestaktion aus Solidarität mit ihrem Kollegen: Über hundert Londoner Polizistinnen und Polizisten verzichten im Dienst aufs Tragen ihrer Waffe.
Foto: Tolga Akmen (EPA, Keystone)
Im Zuge einer Revolte von über hundert bewaffneten Polizisten in London hat die britische Regierung die Bereitstellung von Armeeeinheiten angeordnet, um etwa im Falle eines Terroranschlags «den Schutz der Bevölkerung» garantieren zu können. Auch Polizeibeamte aus anderen Landesteilen, die über Waffenscheine verfügen, sind nun zur Verstärkung in die Hauptstadt gerufen worden. Andere Beamte wollen sich wiederum dem Londoner Streik anschliessen und fürs Erste keine Schusswaffen mehr mit sich führen.
Grund dafür, dass so viele Polizisten aufs Waffentragen verzichten wollen, ist die Mordanklage, die gegen einen ihrer Kollegen erhoben worden ist. Der anonym gebliebene Polizeibeamte hatte im vorigen September in Süd-London einen unbewaffneten schwarzen Mitbürger mit einem Kopfschuss getötet. Das Gerichtsverfahren gegen den Polizisten ist für nächstes Jahr geplant.
Schlechte Moral in der Polizeitruppe
Viele Kollegen des Angeklagten wollen die Mordanklage aber nicht hinnehmen. Sie fürchten, wie einzelne von ihnen der Londoner «Times» erklärten, dass sie selbst einmal, «in der Erfüllung unserer Pflicht», vor Gericht landen könnten.

Oft müssen sie blitzschnell Entscheidungen treffen: Bewaffnete Polizeibeamte vor dem Parlament in London.
Foto: Keystone
Die Moral der Truppe sei besonders schlecht, erklärten sie, nachdem ein jüngst veröffentlichter Untersuchungsbericht eine «zutiefst besorgniserregende, wahrhaft toxische Kultur» an der Spitze der bewaffneten Polizeieinheiten der Metropolitan Police vermeldet hatte.
Mehr Schutz für Polizisten und mehr Verständnis für deren schwierige Lage in unvorhersehbaren Situationen sei hier vonnöten, mahnte Londons Polizeipräsident Sir Mark Rowley. Und er forderte eine «Überholung geltender Gesetze» in dieser Frage. Der Polizeichef wünscht sich weniger Untersuchungen und mehr Berücksichtigung «der Notwendigkeit der Selbstverteidigung».
Eine Überprüfung der Gesetze gelobte unmittelbar Innenministerin Suella Braverman, die für den rechten Flügel der Konservativen in der Regierung spricht. Sie wolle dafür sorgen, dass «Polizisten, die ordentlich ihre Pflichten ausführen, nicht mehr so leicht vor Gericht gestellt werden können».
«Wir brauchen unsere tapferen bewaffneten Polizisten, damit sie uns vor den gefährlichsten und gewalttätigsten Elementen unserer Gesellschaft beschützen», sagte die Innenministerin. «Im Interesse der öffentlichen Sicherheit müssen sie unter aussergewöhnlichem Druck blitzschnelle Entscheidungen treffen. Sie sollen nicht in Angst leben müssen, dass sie auf der Anklagebank landen, nur weil sie ihre Pflicht tun.»
«Es gibt keinen Grund, warum Polizisten ausgenommen sein sollten von Strafverfolgung für mögliche Verbrechen.»
Shoaib Khan, Menschenrechtsexperte
Premierminister Rishi Sunak stimmte Braverman zu: Die bewaffneten Polizisten, denen das ganze Land «Dank für ihre Tapferkeit» schulde, benötigten «Klarheit und Gewissheit» im Rechtsbereich. Dagegen warnten zahlreiche Anwälte nachdrücklich vor einer Änderung der Rechtslage.
Der Menschenrechtsexperte Shoaib Khan etwa meinte: «Es gibt keinen Grund, warum Polizisten ausgenommen sein sollten von Strafverfolgung für mögliche Verbrechen, die sie bei der Ausübung ihrer Arbeit begangen haben.» Und der prominente Anwalt Mark Watson sagte: «Die Polizei versieht eine äusserst schwere und schwierige Rolle in unserer Gesellschaft – aber Teil dieser Gesellschaft bleibt sie doch.»
2600 bewaffnete Polizisten in London
Lord Macdonald, ein früherer Leiter der Strafverfolgungsbehörde in England, fügte hinzu: «Die Polizei kann kein Veto haben über Entscheidungen, die Staatsanwälte bei der Strafverfolgung treffen. Wenn Polizisten sich weigern, ihre Arbeit zu tun, weil ein Beamter angeklagt worden ist, und die Innenministerin das unterstützt, dann haben wir kein funktionsfähiges Rechtssystem mehr.»
Traditionsgemäss sind die meisten Polizisten auf den Britischen Inseln unbewaffnet. Für bewaffnete Einheiten sind spezielles Training und dazugehörende Dokumente erforderlich. In London gibt es rund 2600 bewaffnete Polizisten.
Die nun angeforderten Soldaten, die nach Informationen des Londoner Guardian der Elitetruppe SAS angehören, werden keine Strassenpatrouillen oder ähnliche Aufgaben übernehmen. Sie sollen bereitstehen für den Fall, dass es zu Terrorangriffen oder zu sonstigen «besonderen Umständen» kommt.
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