Im Vergleich zu Europa hat Japan weniger Coronavirus-Fälle, aber mehr Spitalbetten. Dennoch warnen Experten vor einem Kollaps des Gesundheitssystems. Was läuft falsch?

Öffentliche Gesundheitszentren sind in Japan für die Coronavirus-Tests zuständig. Nun rächt sich, dass die Zahl dieser Zentren aus Spargründen reduziert wurde.
Japan, das bisher vergleichsweise gut durch die Coronavirus-Pandemie gekommen ist, steht vor einem Paradox: Bis zur gegenwärtigen Krise rühmte sich das Land, mehr Spitalbetten pro Kopf der Bevölkerung zu besitzen als andere Industrienationen. Zudem ist die Anzahl bestätigter Fälle mit derzeit 7000 bis 8000 pro Tag bei 126 Millionen Einwohnern proportional deutlich niedriger als in Europa. Dennoch besteht die Angst vor einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems.
Bereits am Donnerstag hat die Zentralregierung den Notstand von vier auf elf Präfekturen ausgedehnt, weil die für Covid-19-Patienten reservierten Betten bald belegt sind. Inzwischen sind schon mehrere 50- bis 80-jährige Infizierte, die aus Bettennot nach Hause geschickt worden waren, daheim verstorben. Inzwischen werden auch in vielen anderen der insgesamt 47 Präfekturen die Betten knapp.
Die Tageszeitung «Asahi» erklärte den Japanern bereits den Begriff Triage, das Auswählen von Patienten, die man sterben lässt, weil die Kapazitäten nicht für alle reichen. Und der Präsident von Japans Medizinischer Vereinigung, Toshio Nakagawa, mahnte, dass die Ausrufung des Ausnahmezustands für das ganze Land eine Option sei. Er forderte die Regierung zu raschem Handeln auf.
Japan kann Kapazitäten zu wenig schnell erhöhen
Nachdem die Regierung zugeschaut hat, wie die Zahl der für Covid-19-Patienten reservierten Betten seit dem Sommer um zehn Prozent auf 27 000 reduziert wurde, reagiert sie nun. Für jedes Intensivbett, das Kliniken schaffen, will der Staat künftig einmalig 35 000 Euro und höhere Tagessätze zahlen.
Dass das reicht, bezweifelt der Professor Kenji Shibuya, Direktor des Institute for Population Health am britischen King’s College, im Gespräch. Die drittgrösste Volkswirtschaft der Welt sei zwar mit 13 Spitalbetten pro 1000 Einwohner statistisch das medizinisch am besten ausgestattete Land der OECD, einer Organisation der reichsten Industrieländer. «Dennoch hat Japan allerdings sehr begrenzte Kapazität, schnell auf kurzfristigen Bedarf zu reagieren», erklärt Shibuya, der früher Regierungsausschüsse geleitet hat und nun Sonderberater des Chefs der Weltgesundheitsorganisation ist.
Die Bettenzahl sei irreführend, merkt er an. Denn in Japan würden oft bettlägerige Senioren in Spitälern betreut, die in anderen Ländern in Altersheimen oder daheim leben würden. Die Zahl der Intensivbetten liegt dagegen laut dem Gesundheitsministerium trotz einem Ausbau während der Krise nur bei 13,5 Betten pro 100 000 Einwohner. In der Schweiz ist der Wert doppelt, in Deutschland fast dreimal so hoch.
Die Probleme seien schon lange bekannt, kritisiert Shibuya. «Covid-19 beschleunigt nur das Systemversagen.» Doch historische und systemische Gründe erschwerten die notwendigen Reformen.
Privatkliniken und Sparzwang machen Japan anfällig
Historisch wurden in Japan Spitäler nicht wie in Europa von Kirchen oder dem Staat, sondern von Ärzten gegründet. Daher überwiegen einige grosse und viele kleinere Privatkliniken, die nun weder organisatorisch noch finanziell unerwartete Investitionen stemmen können.
Zudem beschränkt das System den politischen Handlungsspielraum. Denn die Regierung kann nicht einfach verordnen, dass die privaten Kliniken Intensivbetten ausbauen. Und ob sich die Spitalmanager mit Subventionen locken lassen, ist unklar. Sie argumentieren, dass sie als Covid-19-Spital andere Kunden verlören und sich so ihre Finanzprobleme noch verschärften.
Im Gesundheitswesen rächen sich die zwei grössten strukturellen Probleme Japans: die rapide alternde Gesellschaft und der fehlende Wille zu harten Reformen. Seit 2010 schrumpft die Bevölkerung; inzwischen sind mehr als 28 Prozent der Einwohner über 65 Jahre.
Gespart wird schon lange: So halbierte die Regierung in den vergangenen dreissig Jahren nicht nur die Zahl der öffentlichen Gesundheitszentren – diese müssen nun mit ihren knappen Ressourcen die Corona-Tests durchführen und Infektionsketten verfolgen. Zudem senkt die Regierung regelmässig Preise für Arzneimittel und ärztliche Behandlungen und dehnt den Selbstbehalt der Krankenversicherten aus.
Japan hofft auf den sanften Corona-Notstand
Die Spitäler seien vom Spardruck härter betroffen als die normale Ärzteschaft, sagt Kenji Shibuya. Denn die starke Ärztelobby repräsentiere und schütze vor allem Haus- und Fachärzte.
Lange Zeit wurden Engpässe durch massive Überstunden und unbezahlte Arbeit junger Ärzte übertüncht. Nun sollen Arbeitszeitreformen Burnouts unter den Ärzten verhindern helfen. Normale Betten in Betten für Intensivpflege umzuwandeln, ist auch deshalb schwierig, weil spezialisierte Mediziner und Pfleger fehlen.
Für Japan liegt daher die grösste Hoffnung darin, auch die dritte Virenwelle in den Griff zu bekommen. Noch hofft die Regierung, dies mit relativ sanften Massnahmen zu schaffen. Die meisten Geschäfte sind auch im Notstand weiterhin geöffnet. Hingegen sollen Firmen wieder mehr Angestellte aus dem Home-Office arbeiten lassen, Restaurants und Bars um 20 Uhr freiwillig schliessen. Denn das Notstandsgesetz erlaubt bis anhin keine Befehle und Strafen.
Das will die Regierung nun durch eine Gesetzesnovelle ändern. Viel Zeit bleibe aber nicht, sagte der Gouverneur der Präfektur Nagano, Moriichi Abe, warnend: «Wenn diese Situation anhält, werden wir nicht in der Lage sein, Leben zu retten, die gerettet werden könnten.»