120 Pflegefachpersonen aus Zürcher Spitälern haben sich seit dem Sommer für die Unterstützung der Intensivstationen weiterbilden lassen. Experten sind sich einig: Das war nur ein Tropfen auf den heissen Stein.

Ärzte und Pflegende kümmern sich um Patienten auf der Covid-19-Intensivabteilung im Stadtspital Triemli.
Jenani Jeyakanthan ist 24 Jahre alt, eine fröhliche, junge Zürcherin, die mit beiden Beinen im Leben steht. Das muss sie auch, denn in ihrem Alltag gibt es zurzeit kein bisschen Routine. Sie arbeitet als Pflegefachfrau im Stadtspital Triemli. Normalerweise ist sie auf der Chirurgie, wo sie Patienten nach Bauch- oder Gefässoperationen betreut. Die Schichten der letzten paar Tage und Nächte sowie über Weihnachten hat sie aber auf der Intensivpflegestation (IPS) verbracht.
Dringende Einsätze
Sie ist eine von rund 120 Pflegefachpersonen im Kanton Zürich, die während der Corona-Krise einen Schnellkurs besucht haben, um sich in der Intensivpflege weiterzubilden. «Ich werde eingesetzt, wo es mich gerade am dringendsten braucht», sagt Jenani Jeyakanthan, die in voller Schutzkleidung auch Patienten mit Covid-19 betreut. «Die Arbeit auf der IPS ist streng, die Patienten bleiben zum Teil wochen- oder monatelang, bis sich ihr Zustand stabilisiert hat.»

Jenani Jeyakanthan arbeitet als Pflegefachfrau im Triemli.
Die Weiterbildung, die die Pflegefachfrau im Spätsommer besuchte, umfasste einen viertägigen Theoriekurs sowie fünf Praxistage auf der IPS im Triemli. Seither ist sie immer wieder auf der IPS im Einsatz, allerdings ganz klar nur als Unterstützung und nicht als Ersatz der Intensivpflege-Experten. In Absprache mit diesen zieht sie Medikamente auf oder hilft beim Umlagern von Patienten im Koma. Anspruchsvollere Tätigkeiten sind den Experten vorbehalten, wie sie erzählt: «Beatmungsgeräte zum Beispiel sind für mich tabu.»
Virusvarianten sorgen für Ungewissheit
27 Pflegende des Stadtspitals Waid und Triemli haben die Weiterbildung besucht. «Ohne sie wäre es für uns ganz schwierig geworden», sagt Melanie von Bresinski, die Leiterin Pflege Intensivstation am Triemli. «Wir brauchen diese Hilfe unbedingt.» Denn die Lage auf den IPS im Triemli- und im Waidspital ist zurzeit stabil, aber angespannt, wie die Klinik mitteilt. Die Pflegenden seien ermüdet von der Dauerbelastung durch Corona und die anderen schwerkranken Patienten. In anderen Spitälern hat sich die Situation in den letzten Tagen gebessert.
Im Universitätsspital Zürich (USZ) präsentiert sich die Lage ähnlich wie am Triemli. Mitte Januar waren die Betten der sechs Intensivstationen praktisch vollständig belegt. Eine Entspannung sei trotz generell rückläufigen Zahlen noch nicht in Sicht: Der Respekt vor dem mutierten Coronavirus ist im USZ und im Triemli gross. Die Varianten könnten zu steigenden Ansteckungszahlen und damit zu mehr Hospitalisationen führen, wird befürchtet.
Andreas Zollinger, der Medizinische Direktor der Stadtspitäler Waid und Triemli, erklärt: «Unsere Erwartungen können sich nur auf Vermutungen abstützen, basierend auf den Entwicklungen, die man in England und Irland sowie zum Teil auch schon in Spanien und Portugal beobachten kann. Diese Mutation hat das Potenzial, eine sehr heftige dritte Welle mit einem enormen Anstieg der Erkrankungsfälle in kurzer Zeit auszulösen.» Dabei könnten die Spitäler insgesamt und die Intensivstationen zuerst und am stärksten überlastet werden, sagt Zollinger. «Unsere Hoffnung ist, dass dies nicht eintrifft.»
«In der Krise hilft man sich»
Wolfgang Pagel ist 38-jährig und Pflegefachmann am USZ. Er hat ebenfalls den IPS-Unterstützungspflege-Kurs besucht. Seit Anfang November arbeitet er ausschliesslich auf der Intensivstation, um das Team dort zu entlasten. Sein Alltag hat sich, seit er den Kurs beendet hat, verändert. In der Poliklinik für Urologie, wo er normalerweise tätig ist, betreut er fast ausschliesslich ambulante Patienten.

Wolfgang Pagel ist Pflegefachmann am Universitätsspital.
Während er dort nur tagsüber arbeitet und am Wochenende frei hat, übernimmt er nun, auf der IPS, auch Früh-, Spät- oder Nachtschichten. «Der Tod ist präsent auf der IPS», sagt er, «und der Austausch mit den Angehörigen ist intensiv.»
Das USZ setzt die Absolventen vor allem auf Nicht-Covid-19-Intensivstationen ein, wo sie die Intensivpflege-Experten unterstützen. Diese Teams arbeiten mit reduziertem Personal, weil ein Teil der Intensivpflege-Experten in die Covid-19-Intensivstationen versetzt wird. «Die Betreuung der Covid-19-Patienten ist auch für die Intensivpflege-Experten fordernd», erklärt Simone Stein, Leitung Pflegedienst am Institut für Intensivmedizin. «Die Unterstützung durch die Kursteilnehmer ist sehr hilfreich», fügt sie an. «Nicht zu unterschätzen ist das Signal, das vermittelt wird: In der Krise hilft man sich und steht zusammen.»
Debriefings zur Entlastung
Die Situation sei eine Herausforderung, sagt Wolfgang Pagel. «Man möchte am Abend zufrieden heimgehen, doch das gelingt nicht immer, auch wenn wir unser Bestes geben.» Er hat zudem ständig im Hinterkopf, dass er damit rechnen muss, das Virus von der Arbeit nach Hause zu bringen. «Regelmässig gibt es Debriefings, in denen wir belastende Situationen besprechen und reflektieren können», erzählt er. Dabei werde vieles aufgefangen.
Initiiert hat die Weiterbildungen in IPS-Unterstützungspflege im letzten Sommer die Gesundheitsdirektion. Es war eine Sofortmassnahme, als absehbar war, dass es auf den IPS Engpässe geben würde, wie Sibrand Houtman von der Abteilung Versorgungsplanung erklärt. Durchgeführt hat die Kurse die Höhere Fachschule Z-INA für Intensiv-, Notfall und Anästhesiepflege.
Keine dauerhafte Lösung
Houtman, der selbst Intensivmediziner ist, schildert, wie man zusätzliche Beatmungsgeräte für die IPS beschafft und sich gleichzeitig überlegt habe, wie man das Personal unterstützen könne. «Einige Spitäler führten halbtägige Kurse durch, in denen sie Pflegefachpersonen anlernten», erzählt Houtman. «Schnell zeigte sich: Das funktioniert nicht wirklich gut.»

Neue, von der Armee zur Verfügung gestellte Beatmungsgeräte werden für den Einsatz vorbereitet.
Zusammen mit dem Universitätsspital Zürich und der Fachschule Z-INA wurde darum der Schnellkurs konzipiert. Die Gesundheitsdirektion finanzierte den Theoriekurs und die Lohnkosten für den Arbeitsausfall der Teilnehmer; laut Houtman beliefen sich die Kosten auf rund 800 000 Franken.
Die Rückmeldungen der Kursteilnehmer seien positiv, sagt Houtman. «Wir hoffen, dass wir die IPS etwas entlasten konnten. Die Intensivpflege-Experten waren in den letzten Monaten stark gefordert und leisteten teilweise Zwölf-Stunden-Schichten. Doch man darf nicht vergessen: Das qualifizierte Personal auf den IPS war schon vor der Krise knapp.»
Susanne Schuhe, die Leiterin von Z-INA, bestätigt diese Einschätzung. Sie sagt, das Kursangebot sei ein Tropfen auf den heissen Stein. «Es ist in einer akuten Krisensituation sinnvoll. Aber es hilft nicht gegen den ständigen Mangel an IPS-Personal.» Die Gründe für den Mangel sieht sie unter anderem in den gestiegenen Anforderungen und der hohen körperlichen und psychischen Belastung. Die Patienten litten unter immer mehr und komplexeren Krankheiten, und ethische Probleme rückten in den Vordergrund. «Höhere Löhne könnten ein Anreiz sein», sagt Schuhe. «Es fehlt aber vor allem auch an flexiblen Arbeitszeitmodellen.»
Zu wenig Interessenten
Die IPS-Unterstützungspflege-Weiterbildung ist eine Zürcher Erfindung. Die Z-INA führt demnächst einen vorerst letzten Kurs durch für Pflegende aus anderen Kantonen. Weitere Kurse sind derzeit nicht geplant. Auf die Frage, warum nicht mehr Teilnehmer ausgebildet wurden, heisst es bei der Gesundheitsdirektion, mehr als 120 Anmeldungen habe es nicht gegeben. «Die Spitäler konnten zudem im Sommer, als die Pandemie etwas abflachte, nicht unbeschränkt Personal in Weiterbildungen schicken. In dieser Zeit hat man Operationen nachgeholt, die im Frühling verschoben wurden.»
Bleibt auch die Frage, wie die Gesundheitsdirektion gedenkt, die IPS für künftige Krisensituationen oder Pandemien zu rüsten. Braucht es nicht viel Flexibilität, um im Fall der Fälle genügend IPS-Personal zur Verfügung zu haben? Aus der Gesundheitsdirektion verlautet, für die Absolventen des IPS-Unterstützungspflege-Kurses fänden bis zum Spätherbst 2021 Wiederholungskurse statt, um das Wissen aufzufrischen.
Zudem verpflichte der Kanton Zürich die Spitäler, dem Bedarf entsprechend Personal aus- und weiterzubilden. «Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass diese Ausbildungsplätze zwar angeboten werden. Mangels Interessenten gelingt es aber nur zum Teil, diese Plätze zu besetzen.» Der Kanton unterstütze die Werbung von Nachwuchs unter anderem finanziell.
Wolfgang Pagel, der Pflegefachmann aus dem USZ, empfindet seine derzeitige Arbeit neben der Belastung auch als sinnstiftend und befriedigend. Das Team auf der IPS sei sich einig: «Wir packen es, auch wenn es schwierig ist.» Und Jenani Jeyakanthan möchte in Zukunft auf der Intensivstation bleiben. Sie hat sich entschlossen, das zweijährige Nachdiplomstudium Intensivpflege zu absolvieren. Bereits im März wird es losgehen.