Überfüllte Zellen, überlange Einzelhaft und ausufernde Gewalt: Die Zustände in Ontarios Gefängnissen sind untragbar. Besonders indigene Insassen leiden unter den schwierigen Haftbedingungen.

Ontarios Gefängnisse stehen in der Kritik: Die Haftbedingungen verstossen zum Teil gegen die Anti-Folter-Konvention der Uno.
Die Gefängniszelle war komplett überfüllt. Während Ryan Deluneys Zeit im Thunder Bay Jail Anfang des Jahres befanden sich manchmal vier Männer in einer Zelle, die für eine einzige Person ausgelegt war. Zwei Männer schliefen in einem Stockbett, ein dritter lag auf dem Boden vor der Toilette. Ein vierter war unter dem Bett eingekeilt. Deluney verbrachte mehrere Nächte an diesem Platz, der so eng war, dass er sich nicht umdrehen konnte. Der Schimmel an den Wänden breitete sich stetig aus, der modrige Geruch wurde zur Normalität. «Der Platz unter dem Bett ist wahrscheinlich der Ort, welcher der Hölle am nächsten kommt», sagt Ryan Deluney nach seiner Entlassung im April gegenüber der kanadischen Zeitung «The Globe and Mail». Diese Hölle befindet in Thunder Bay, einem kleinen Städtchen im Süden Kanadas mit Blick auf den Lake Superior.
Dass ausgerechnet in einem kanadischen Gefängnis solche Zustände herrschen, ist erschreckend. Denn das Land wird oft als globales Vorbild im Bereich Menschenrechte gepriesen, auch vonseiten der Uno. Die kanadische Regierung nehme eine Führungsrolle bei der Förderung der Menschenrechte ein, sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Landesgrenzen, schrieb das Hochkommissariat für Menschenrechte nach einem Besuch 2017. Im Bereich der Gleichberechtigung der Geschlechter oder anderer Gender-Fragen mag dies stimmen. Die Anliegen der indigenen Bevölkerung werden jedoch immer wieder übergangen. So dauerte es über zehn Jahre, bis die Rechtsmediziner 2016 und 2017 den Tod von vier Indigenen im Thunder-Bay-Gefängnis genauer untersuchten. Die gerichtliche Untersuchung des Todes eines indigenen Künstlers, der im Februar 2017 auf der Fahrt vom Gefängnis ins Spital verstarb, wurde bereits dreimal aufgeschoben.

Täglich kommt es im Thunder-Bay-Gefängnis zu gewaltsamen Übergriffen. Alle paar Tage wird ein verletzter Insasse ins Spital eingeliefert.
Täglich kommt es zu gewaltsamen Übergriffen
Die Mehrheit der Insassen des Thunder-Bay-Gefängnisses im Gliedstaat Ontario gehört den First Nations an, den Ureinwohnern Kanadas. Fast 75 Prozent der Gefangenen sind indigener Abstammung. Rund vier Fünftel der Insassen befinden sich in Untersuchungshaft, der Rest verbüsst Strafen von weniger als zwei Jahren. Seit Jahren machen Insassen und deren Familien auf die Schrecken des Gefängnisses aufmerksam und fordern Veränderungen. Der Ombudsmann von Ontario, Paul Dubé, bezeichnete die Haftbedingungen nach einer Besichtigung Ende 2019 als die verstörendste Sache, die er je gesehen habe.
Gewalt ist im Gefängnis an der Tagesordnung. Laut der Zeitung «The Globe and Mail», welche im Oktober eine Reportage über das Thunder-Bay-Gefängnis veröffentlichte, musste im vergangenen Jahr alle paar Tage ein verletzter Insasse ins Krankenhaus eingeliefert werden. «Wir leben immer in Angst, weil wir nie wissen, was passieren wird», schrieb ein Häftling in einem Brief an die Zeitung. «Man spielt Karten, dann wird man plötzlich aus einem dummen Grund überfallen.» Zum Opfer wurde auch Josh Collins, ein junger Indigener, der im Rahmen einer Drogenrazzia festgenommen wurde und auf Bewährung hätte freikommen sollen. Ende September 2019 wurde er von mehreren Mitinsassen angegriffen. Die Männer schlugen ihn, traten nach ihm. Als Collins sich wehren wollte, knallte sein Kopf gegen die Zelltüre. Die Vollzugsbeamten fanden ihn zusammengekrümmt am Boden liegend. Überall war Blut. Collins atmete nicht mehr. Die Beamten konnten ihn wiederbeleben, doch Collins trug traumatische Hirnverletzungen davon. Er lag über sechs Wochen im Koma.
Gerichtstermine wurden wegen Personalmangel abgesagt
Die eskalierende Gewalt hängt mit dem chronischen Personalmangel in Thunder Bay zusammen. Die Anzahl der beschäftigten Beamten stagnierte in den vergangenen Jahren, obwohl die Zahl der Insassen bisweilen auf 190 anstieg. Die Einrichtung bietet eigentlich nur Platz für maximal 142 Häftlinge. Aus Platzmangel mussten die Häftlinge vor dem Corona-bedingten Lockdown im März 202o zum Teil in Notunterkünften untergebracht werden. Die Insassen schliefen im Besuchsraum, in den Therapie- oder Besprechungszimmern. Es gab weder Toiletten noch fliessendes Wasser. Die Häftlinge mussten zum Eingang des Gefängnisses eskortiert werden, um eine Toilette zu benutzen: Wenn kein Beamter zur Verfügung stand, urinierten einige auf Handtücher oder in Suppenschüsseln. Laut «The Globe and Mail» mussten Ende September mehrere Gerichtstermine abgesagt werden, da nicht genügend Personal vor Ort war, um die Häftlinge zum Gericht zu eskortieren. Während der zweiten Corona-Welle wurden laut der Zeitung Toronto Star mehrere Gefängnisse in Kanada für Besucher geschlossen, die Insassen konnten tagelang nicht nach draussen.
Das Betreuungs- und Behandlungsangebot für die Insassen ist mangelhaft. Laut einem Bericht des Büros des Rechnungsprüfers von Ontario fehlen in den Strafvollzugsanstalten der Provinz angemessene Behandlungsmöglichkeiten für Insassen mit psychischen Erkrankungen. In sechs der fünfundzwanzig Haftanstalten Ontarios gibt es keine spezialisierten Pflegebetten für Insassen mit psychischen Erkrankungen. Darüber hinaus hatte mehr als die Hälfte der Anstalten keinen Zugang zu einem Psychologen. In Kanada werden Insassen mit psychischen Erkrankungen oft in Isolationshaft untergebracht; meist für deutlich länger als die in der Anti-Folter-Konvention der Uno festgeschriebene Höchstdauer von 15 Tagen. Über eine längere Einzelhaft müsste in jedem Fall ein Gericht entscheiden. Eine Untersuchung der Menschenrechtskommission Ontarios ergab, dass im Toronto-South-Gefängnis Einzelhaft oft als alternative Behandlungsmethode für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen eingesetzt wurde – obwohl mehrere Studien bestätigen, dass eine zu lange Isolation permanente psychischen Schäden nach sich ziehen kann.

Im Toronto South Detention Centre wurden Insassen wiederholt in Einzelhaft gesteckt: Isolation wird als die einzige Behandlungsmethode für psychisch kranke Insassen angesehen.
Nach viereinhalb Jahren aus Einzelhaft entlassen
Obwohl die Regierung beteuere, nur als Ultima Ratio auf Einzelhaft zurückzugreifen, werde die Praxis in Ontario überbeansprucht und oft auch missbraucht, schreibt die John Howard Society, eine gemeinnützige kanadische Organisation, die sich für die Reform von Gefängnissen einsetzt. Schwarze und Indigene würden unverhältnismässig oft in Einzelhaft untergebracht. Im Januar des letzten Jahres wurde Adam Capay, ein junger Angehöriger der Lac Seul First Nation, nach viereinhalb Jahren Einzelhaft aus dem Thunder-Bay-Gefängnis entlassen. Capay verbrachte die Zeit in einer Plexiglaszelle, grelles Licht blendete ihn 24 Stunden am Tag. Capay, der wegen Mordes angeklagt war, wurde frühzeitig aus der Haft entlassen, weil die Verletzung seiner Rechte die Anklage der Regierung überwog.
Bereits seit Jahren plädiert die John Howard Society gemeinsam mit anderen Nichtregierungsorganisationen dafür, die Obergrenze von 15 Tagen in Einzelhaft in Kanada rigoros durchzusetzen. Personen mit psychischen Erkrankungen sollten ganz von der Einzelhaft ausgeschlossen werden. Aufgrund der wachsenden Kritik erliess die Bundesregierung im vergangenen November ein Gesetz, nach dem isolierte Häftlinge die Zellen vier Stunden pro Tag verlassen und mindestens zwei Stunden Kontakt mit anderen Leuten haben dürfen. Im April bestätigte das Berufungsgericht von Ontario, dass Isolationen von Gefangenen von mehr als 15 Tagen verfassungswidrig sind und eine Verletzung der Rechte der Gefangenen darstellen. Der Anwalt Michael Rosenberg, der sich für eine Maximaldauer der Einzelhaft einsetzte, begrüsste den Entscheid. «Es ist einfach enttäuschend, dass er so lange auf sich warten liess», sagte er gegenüber der kanadischen Zeitung «Global News». Viel zu viele Häftlingen hätten unnötig gelitten.
500 Millionen für den Ausbau der Gefängnisse
Die untragbaren Zustände in den kanadischen Gefängnissen sind schon länger bekannt. Nach einem Aufstand der Häftlinge im Oktober 1976 wurden Aufrufe zur Schliessung des Thunder-Bay-Gefängnisses laut. Es dauerte über 20 Jahre, bis die Regierung von Ontario schliesslich 1998 dem Bau eines neuen Gefängnisses in Thunder Bay zustimmte. Der Bau steht noch immer aus. Mitte Oktober kündigte die Regierung Ontarios an, in den nächsten fünf Jahren 500 Millionen kanadische Dollar (345 Millionen Schweizerfranken) in den Ausbau der Haftanstalten der Provinz zu investieren. Ein Teil dieser Gelder wird in den Aufbau von Rehabilitationsprogrammen fliessen, welche gemeinsam mit den indigenen Gemeinden gestaltet werden sollen. Der Neubau des Thunder-Bay-Gefängnisses wurde nicht angesprochen.