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Chirurgin über Fokus auf Geschlechterunterschiede in der Medizin: «Können viel unnötiges Leid verhindern»

Interview: Dana Liechti und Camille Kündig

Frau Banz, bei Mädchen wird ADHS häufig übersehen. Überrascht Sie das?
Vanessa Banz: Gar nicht. Wir alle wissen, dass die Störung bei Buben auftreten, kann und würden die typischen Symptome erkennen. Bei den Mädchen hingegen hat man ADHS sehr oft gar nicht auf dem Radar.

Warum?
Es gibt viele blinde Flecken in der Medizin – auch, was Geschlechterunterschiede angeht. Die meisten Studien wurden in der Vergangenheit mit jungen, gesunden, weissen Männern durchgeführt. Dabei spielen Sex und Gender – also sowohl das biologische, als auch das soziokulturelle Geschlecht – eine grosse Rolle. Schon nur die Menge an Fettgewebe und Muskelmasse oder das Blutvolumen sind bei Männern und Frauen verschieden. Das führt unter anderem dazu, dass Frauen bei gleicher Dosierung vieler Medikamente mehr Nebenwirkungen haben. Darum brauchen wir die Gendermedizin.

Zur Person: Vanessa Banz

PD Dr. med. Dr. phil. Vanessa Banz (44) ist Leitende Ärztin der Viszeralen und Transplantationschirurgie am Inselspital Bern. Sie ist eine der Programmleiterinnen und Referentinnen des in der Schweiz ersten Weiterbildungsstudiengangs in geschlechtsspezifischer Medizin an der Medizinischen Fakultät der Universitäten Bern und Zürich. Dieser vermittelt die Auswirkungen des biologischen und soziokulturellen Geschlechts auf die Gesundheit und soll dazu beitragen, dass Geschlechterunterschiede bei der Behandlung stärker berücksichtigt werden.

PD Dr. med. Dr. phil. Vanessa Banz (44) ist Leitende Ärztin der Viszeralen und Transplantationschirurgie am Inselspital Bern. Sie ist eine der Programmleiterinnen und Referentinnen des in der Schweiz ersten Weiterbildungsstudiengangs in geschlechtsspezifischer Medizin an der Medizinischen Fakultät der Universitäten Bern und Zürich. Dieser vermittelt die Auswirkungen des biologischen und soziokulturellen Geschlechts auf die Gesundheit und soll dazu beitragen, dass Geschlechterunterschiede bei der Behandlung stärker berücksichtigt werden.

Was müssen wir uns darunter vorstellen?
Gendermedizin ist eine Form spezialisierter, personalisierter Medizin. Wir verstehen immer besser, dass es nicht «den» Patienten oder «die» Patientin gibt. Wir wissen, dass Alter, ethnische Herkunft, genetischer Hintergrund und vieles mehr eine grosse Rolle spielen, wenn es um Erkrankungswahrscheinlichkeit und Behandlungserfolg geht. Dem Geschlecht – biologisch und eben auch soziokulturell – haben wir bisher viel zu wenig Bedeutung geschenkt. Männer erleiden zum Beispiel häufiger eine Wundinfektion nach Operationen– ausserdem werden Depressionen oder Osteoporose bei ihnen oft spät oder gar nicht diagnostiziert. Auch Essstörungen werden bei ihnen häufig übersehen, weil Männer nicht in das Bild passen, das wir in unserer Gesellschaft von einem Menschen mit Essstörungen haben.

Geschlechtssensible Medizin, die Gendermedizin, hilft also nicht nur Frauen.
Definitiv nicht. Der Grund, warum Frauen trotzdem häufig in den Mittelpunkt gestellt werden, ist, dass es bisher eben oft umgekehrt war. Ein klassisches Beispiel sind die Symptome eines Herzinfarkts.

Druck auf der Brust, ein Ausstrahlen im Arm: Dann sollten die Alarmglocken schrillen, oder?
Bei Männern ja. Frauen hingegen haben häufig Bauchschmerzen, ein Ausstrahlen in den Rücken oder Übelkeit und Erbrechen und vielleicht noch etwas Druck auf der Brust. Oft werden diese Symptome aber sowohl von den Betroffenen als auch von den erstbetreuenden Ärztinnen und Ärzten fehlinterpretiert.

Spielt es denn auch eine Rolle, ob ich mich von einer Ärztin oder einem Arzt behandeln lasse?
Es gibt Studien, die zeigen, dass das Risiko für Komplikationen kleiner ist, wenn eine Chirurgin eine Patientin operiert. Mögliche Erklärungen dafür könnten sein, dass sich Ärztinnen eher an Guidelines halten. Ausserdem stellen sie den Patientinnen vorab mehr Fragen, die diese detaillierter antworten. Dadurch können die Ärztinnen heraushören, was zum Problem werden könnte, und so frühzeitig intervenieren. Das heisst aber nicht, dass Frauen per se die besseren Medizinerinnen sind.

Was können Ärzte in diesem Zusammenhang tun?
Man sollte realisieren, dass man zum Teil unbewusste Vorurteile hat. Ich muss aufpassen, dass ich als weisse Frau eine andere, mir vermeintlich ähnliche Frau nicht anders behandle und eher ernst nehme als eine Person aus anderen kulturellen Kreisen, die meine Sprache nicht gut spricht. Ich beobachte aber, dass jüngere Ärztinnen und Ärzte schon eine ganz andere Aufnahmefähigkeit und Sensibilisierung haben, was spezialisierte Medizin angeht. Das ist wichtig: Achten wir in der Medizin vermehrt auf genderspezifische Unterschiede, können wir viel unnötiges Leid verhindern.