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Chefapotheker schlägt Alarm: Viele Schmerzmittel sind ausverkauft

Chefapotheker schlägt Alarm Viele Schmerzmittel sind ausverkauft

Von Ritalin bis zu Krebsmedikamenten – der Pharmazeut Enea Martinelli warnt, dass rund 470 Präparate in der Schweiz fehlen. Sorgen macht ihm Chinas Rolle auf dem Markt.

Diverse Medikamente, wie etwa Herz-Kreislauf-Medikamente oder Psychopharmaka, sind in bestimmten Dosierungen in Apotheken nicht mehr verfügbar. Die gewohnten Tabletten müssen ersetzt werden.

Diverse Medikamente, wie etwa Herz-Kreislauf-Medikamente oder Psychopharmaka, sind in bestimmten Dosierungen in Apotheken nicht mehr verfügbar. Die gewohnten Tabletten müssen ersetzt werden.

Foto: Alessandro della Valle (Keystone)

«Wer hat noch Rita?», wird vor strengen Prüfungszeiten an Schule und Uni immer mal wieder herumgefragt. Denn auch Kinder und Studierende, die eigentlich gar nicht unter einem Aufmerksamkeitsdefizit leiden und das Medikament Ritalin ärztlich verordnet bekommen, missbrauchen es gern mal als «Lerndroge» – in der Hoffnung, eine bessere Prüfung zu schreiben.

Der Pharmariese Novartis kann die Pillen im Moment aber nicht mehr wie gewohnt verkaufen. Dies liegt nach Angaben der Firma an einer kurzfristig erhöhten Nachfrage, sodass gewisse Packungen mit niedrig dosierten Konzentrationen von 10 beziehungsweise 20 Milligramm nicht mehr vorrätig waren. Daraufhin wurden die Neulieferungen sofort beschleunigt. Mit der Folge, dass das Medikament nach dem zwei- bis vierwöchigen Lieferstopp vermutlich bereits in den kommenden Tagen wieder in allen Dosierungen erhältlich ist.

Gefahr einer falschen Dosierung

Schlimmer ist es dagegen bei überlebenswichtigen Medikamenten wie zum Beispiel bei Therapien gegen Prostatakrebs mit dem Präparat Bicalutamid von Sandoz, bei denen die Erkrankten nicht sofort ein anderes Arzneimittel nehmen können. Auch der Blutdrucksenker Losartan von Spirig und Axapharm ist in bestimmten Dosierungen erneut in Apotheken nicht mehr verfügbar, sodass die gewohnten Tabletten durch andere ersetzt werden müssen.

Für die Behandlung von Parkinsonkranken fehlen im Moment vier Arzneimittel, darunter etwa Carbidopa/Levodopa von Sandoz. «Auch hier gibt es natürlich Alternativen wie Madopar von Roche», sagt der Neurologe Stephan Bohlhalter vom Kantonsspital Luzern. Doch aufgrund anderer Dosierungen, verzögerter Wirkstofffreisetzung und auch Zusatzstoffen ist dadurch zum Teil eine vorübergehende Betreuung in der Klinik erforderlich. Bei Patienten und Patientinnen mit fortgeschrittener Parkinsonerkrankung, die sechs- oder siebenmal am Tag die Tabletten schlucken müssen, besteht die Gefahr, dass sie mit einem neuen Präparat entweder unter- oder überdosiert sind.

Mangel an Herzkreislauf-Produkten

Die Liste der derzeit in der Schweiz nicht mehr erhältlichen Medikamente umfasst insgesamt rund 470 Arzneimittel. Am häufigsten gehören dazu Herz-Kreislauf-Medikamente mit 102 verschiedenen Produkten und Psychopharmaka mit 41 unterschiedlichen Präparaten. Zudem fehlen unter anderem auch diverse Schmerzmittel wie das bekannte Ibuprofen von Sandoz und auch Antibiotika wie etwa ein spezielles Vancomycin-Pulver, ebenfalls von Sandoz. Dies geht aus einer aktuellen Analyse des Chefapothekers Enea Martinelli von den Spitälern Frutigen, Meiringen, Interlaken (FMI) hervor, der den turbulenten Schweizer Pharmamarkt mit Argusaugen beobachtet und dies auf der Website Drugshortage übersichtlich festhält.

Obwohl die Situation bereits vor der Corona-Pandemie noch weitaus schlimmer war, hat sie sich nicht mehr richtig erholt, und die Lieferengpässe sind seit rund drei Jahren immer noch auf einem sehr hohen, kritischen Niveau. Das grosse Problem ist, dass man bei Arzneimitteln – anders als bei Lebensmitteln – die komplizierte Produktionskette nicht im Detail zurückverfolgen kann. Wo kommen die einzelnen Rohstoffe überhaupt her? Gibt es irgendwo etwa aufgrund eines Lockdown in China plötzlich Schwierigkeiten mit der Lieferung? Stoppt dies die gesamte Produktion?

«Bei Milch ist es viel einfacher, sodass man sogar fast noch die jeweilige Kuh im Stall identifizieren kann», sagt Martinelli. Doch bei Arzneimitteln wisse man auch unter Fachleuten praktisch nichts, werde immer wieder überrascht und müsse spontan kreative Alternativen als möglichen Ersatz suchen. Bisher habe dies meist irgendwie geklappt, sei auf Dauer aber keine Lösung. Zum Beispiel hatten einige Spitäler das Benzodiazepin Midazolam zu Beginn der Pandemie selbst herstellen müssen. Denn vorübergehend war es nicht mehr von der Firma lieferbar, aber zumindest der Wirkstoff noch weiter erhältlich. Wegen seiner stark beruhigenden Wirkung wird das Präparat bei intubierten Covid-19-Patienten eingesetzt.

Morphium aus Pflichtlager

Damit nicht genug: Weil es seit rund einem Jahr in der Schweiz regelmässig zu massiven Versorgungsengpässen mit oralen Opioiden wie etwa Morphinpräparaten kommt, hat das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) auf Antrag des Bundesamts für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) seit Mitte März die Pflichtlager für diese Arzneimittelgruppe bei den jeweiligen Firmen freigegeben. «Gründe dafür sind unter anderem Kapazitätsprobleme in der Herstellung der komplexen Produkte», sagt Martinelli. Insbesondere für Patienten und Patientinnen mit mittelstarken bis starken, lange anhaltenden Schmerzen seien diese Präparate sehr wichtig.

Bei der Herstellung von Medikamenten hängt Europa stark am Tropf von China, weil dort billig produziert werden kann. Besonders problematisch sind deshalb Produktionsausfälle oder -störungen der Lieferketten, wenn es zum Beispiel um Antibiotika geht, die stärkste Waffe der Medizin im Kampf gegen schwere Infektionen. In der Region Wuhan wird zum Beispiel eine Vorläufersubstanz von Penicillin hergestellt. «Ein lokaler Lockdown hat dort somit verheerende Folgen für die globale Gesundheit», sagt Martinelli.

Auswirkungen auf den Krieg: Mit einem Lieferstopp wichtiger Medikamente sei der Gegner recht schnell erledigt, betont der Pharmazeut Enea Martinelli.

Auswirkungen auf den Krieg: Mit einem Lieferstopp wichtiger Medikamente sei der Gegner recht schnell erledigt, betont der Pharmazeut Enea Martinelli.

Foto: Alessandro della Valle (Keystone)

Aber auch politische Konflikte mit China wären dramatisch, fügt der Chefapotheker aus Interlaken hinzu. Man stelle sich vor, China würde sich im Ukraine-Krieg auf die Seite Russlands schlagen. Es brauche im Prinzip gar keine Bombe, sondern einfach eine Einstellung der Lieferung wichtiger Medikamente. Dann sei der Gegner recht schnell erledigt.

Der Krieg in der Ukraine macht deutlich, warum es auch bei uns zu weiteren Engpässen für Arzneimittel und Problemen bei der Versorgung von Kranken in der Schweiz oder in ganz Europa kommen kann. So ist die Ukraine zum Beispiel sehr wichtig für die Herstellung von Glas. «Es lässt sich nicht auf die Schnelle irgendein anderes Glas für eine Ampulle nehmen, um darin etwa ein besonderes Krebsmedikament abzufüllen», erklärt Martinelli.

Verärgerte Britinnen

Dass gewisse Produkte hierzulande nicht mehr erhältlich sind, hängt auch stark von wirtschaftlichen Interessen ab. So könnten unter anderem Kinderärzte die Allerkleinsten etwa bei einer Harnwegsinfektion nicht mehr wie früher üblich mit dem antibakteriellen Sirup Podomexef versorgen, da die Firma Daiichi Sankyo aufgrund eines zu kleinen Absatzmarktes das Antibiotikum für Säuglinge und Kleinkindern nicht mehr für die Schweiz produziert. «Nur auf eigene Verantwortung und Kosten könne es aber noch direkt aus Deutschland importiert werden», betont Martinelli. Dies sei bedauerlich, da andere Antibiotika zwar ähnlich wirkten, aber weniger empfindlich seien.

Die komplexen Lieferketten auf dem Weltmarkt sind seit eh und je auf Gewinnmaximierung getrimmt. Wenn eines der vielen Rädchen bei diesem global funktionierenden System ausfällt, bricht vorerst der ganze Prozess zusammen. 

Ein weiteres Beispiel dafür sind etwa die Folgen des Brexit und der Pandemie. «In Grossbritannien gehen Frauen in der Menopause gerade auf die Barrikaden und stürmen wütend in die Apotheken», sagt Martinelli. Das liege unter anderem daran, dass die britischen Pharmafirmen aufgrund von diversen Produktionsproblemen nicht mit der gestiegenen Nachfrage nach weiblichen Hormonersatzstoffen mithalten könnten und diese deshalb vielerorts nicht mehr erhältlich seien. 

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