Switzerland
This article was added by the user . TheWorldNews is not responsible for the content of the platform.

Best of Papablog: Spezialwoche zum Schulanfang: Wenn die Klassengspändli viel älter sind

Best of Papablog: Spezialwoche zum SchulanfangWenn die Klassengspändli viel älter sind

Die frühe Einschulung wird bei jedem zehnten Kind mit Elterngesuchen umgangen. Unser Gastautor und Sekundarlehrer sieht das kritisch. 

Die Sommerferien sind bald zu Ende, und der Schulanfang steht bevor. Wir publizieren deshalb in dieser Woche Texte unserer Mama- und Papablogger rund um das Thema Schule, die viel zu reden gegeben haben. Dieser Beitrag ist erstmals am 9. Juni 2022 erschienen.

Von wegen Chancengleichheit: Kinder mit Migrationshintergrund beantragen kaum eine spätere Einschulung – und sind dann die Jüngsten der Klasse.

Von wegen Chancengleichheit: Kinder mit Migrationshintergrund beantragen kaum eine spätere Einschulung – und sind dann die Jüngsten der Klasse.

Foto: Walter Bieri (Keystone)

Als ich vor 20 Jahren meine erste Sekundarklasse übernommen habe, sind meine damaligen Schülerinnen und Schüler mit etwa 16 Jahren in die Lehre eingetreten. Heute stehen einige Jugendliche wegen der Verschiebung des Stichtages zur Einschulung schon mit 15 Jahren vor diesem wichtigen Schritt ins Berufsleben. Das ist vor allem für die Jungs nicht immer einfach, die in diesem Alter oft weniger reif sind als ihre Klassenkameradinnen.

Pädagogische Mehrarbeit

Bekanntlich hat man wegen Harmos den Stichtag zeitlich nach hinten geschoben: Kinder, die am 31. Juli vier Jahre alt sind, werden seit 2019 in den Kindergarten eingeschult. Nicht nur der Kindergarten hat damit pädagogische Mehrarbeit (Stichwort Windeln wechseln), auch für die Oberstufe ist diese Harmos-bedingte Verjüngung problematisch. Das jüngste Kind ist in der 1. Sekundarklasse gerade mal elf Jahre alt, während der älteste Schüler im gleichen Schuljahr seinen 13. Geburtstag feiert. Dies führt teilweise zu einem Altersunterschied von fast zwei Jahren. Klar, diesen maximalen Unterschied von zwei Jahren hat es schon immer gegeben – früher haben einige Eltern ihre Kinder einfach früher eingeschult. Wenn sich nun aber Schülerinnen und Schüler (insbesondere Stichtagskinder) altersmässig ein Jahr früher mit der Berufswahl auseinandersetzen müssen, ist dies klar zu früh. 

Die Verschiebung des Stichtages betrifft auch den Mittelschulanschluss, der in Zürich bekanntlich ab der 6., 8. oder 9. Klasse erfolgt. Auch hier zeigt sich: Ältere Schüler schaffen eher den Sprung ins Gymi. Das deckt sich mit meiner Beobachtung, dass oft die gleichen Jugendlichen die Aufnahmeprüfung erst in der 3. Sek bestehen, während sie ein Jahr früher noch scheiterten. 

Eltern misstrauen früher Einschulung

All dies scheint den Eltern nicht verborgen geblieben zu sein: Seit der Verschiebung des Stichtages gibt es nämlich eine Tendenz zur späteren Einschulung. Laut einer Statistik des Zürcher Volksschulamtes sind 2010 (also vor Verschiebung des Stichtages) zwei Prozent der Kinder altermässig zurückgestellt worden. 2021 sind dagegen fast zehn Prozent ein Jahr später eingeschult worden. Im gleichen Zeitraum ist aber die frühere Einschulung von fünf auf null Prozent gesunken. Diese Zahlen zeigen deutlich: Eltern misstrauen der frühen Einschulung. 

Ältere Schüler erbringen aufgrund der geistigen Reife bessere schulische Leistungen als jüngere.

Eine spätere Einschulung kann zudem in den meisten Fällen schulische Vorteile bringen. Dies ist wissenschaftlich belegt und wird von Expertinnen und Experten als Relativ Age Effect (RAE) bezeichnet: Ältere Schüler erbringen aufgrund der geistigen Reife bessere schulische Leistungen als jüngere. Die Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) erarbeitet zurzeit eine Studie zum RAE. SKBF-Direktor Stefan Wolter kann aber heute schon sagen: «Der Lerneffekt der Schülerinnen und Schüler ist schon bei zwölf Monaten Altersunterschied erheblich. Bei zwei Jahren Altersunterschied ist dieser natürlich noch viel grösser. Ein Kind wird bekanntlich nicht nach standardisierten Methoden bewertet, sondern im Klassenverband.» Anders gesagt: Ein älteres Kind sticht in einer Klasse von jüngeren Kindern ohne grosse Begabung leistungsmässig heraus. Genau gleich wie ein durchschnittlicher Schüler in einer schwachen Klasse immer bessere Noten schreibt. 

Ungleiche Bildungsspiesse

Sicher, es ist illusorisch zu glauben, dass es gleiche Bildungschancen für alle gibt. Mit dem Zeitpunkt des Schuleintritts wird aber eine ganze Schulkarriere geprägt. Wer einmal eingeschult ist, kann nicht so einfach repetieren oder später in die Primarschule übertreten. Dieser Trend zur elterngesteuerten späteren Einschulung führt allenfalls zu ungleichen Bildungsspiessen. Gerade Familien mit Migrationshintergrund haben kaum von dieser Möglichkeit gehört, geschweige denn die sprachlichen und organisatorischen Mittel dazu, ein Gesuch einzureichen. 

Es gibt aber sicher auch Eltern, die ihre Kinder aus finanziellen oder organisatorischen Gründen (Stichwort Kita-Kosten oder fehlende Betreuung durch Grosseltern) nicht zurückstellen können. Im Gegensatz zur Krippe ist der Kindergarten bekanntlich gratis. 

Man sollte Gesuche von Eltern, die nur aus strategischen Gründen ihre Kinder später einschulen wollen, zurückhaltend bewilligen.

Das ist bildungspolitisch problematisch: So sind nämlich Kinder aus der Unterschicht oder Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund teilweise bis zu zwei Jahre jünger als ihre Klassengspändli und so aufgrund ihrer geistigen Reife allenfalls unterlegen. Man sollte den Stichtag wieder in den Frühling schieben und gleichzeitig Gesuche von Eltern, die nur aus strategischen Gründen ihre Kinder später einschulen wollen, zurückhaltend bewilligen. Das Klassenniveau (vor allem in Sek A/B-Mischklassen) ist schon heterogen genug, da braucht es nicht noch einen leistungsverzerrenden Alterseffekt. 

Was halten Sie von der späteren Einschulung und Harmos? Sehen Sie ebenfalls Handlungsbedarf? Diskutieren Sie mit.

Fehler gefunden? Jetzt melden.