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Bausünden in England: Schulen und Spitäler stehen vor dem Kollaps

Bausünden in EnglandSchulen und Spitäler stehen vor dem Kollaps

Ein zerfallender Leichtbeton aus der Nachkriegszeit hat Alarm ausgelöst. Fast 150 Schulen sind ganz oder teilweise geschlossen worden, auch Kliniken geraten unter Druck.

Mobile Toiletten vor dem einsturzgefährdeten Gebäude: Die 1964 gegründete St Thomas More Catholic Comprehensive School in London ist vorübergehend geschlossen (5. September 2023).

Mobile Toiletten vor dem einsturzgefährdeten Gebäude: Die 1964 gegründete St Thomas More Catholic Comprehensive School in London ist vorübergehend geschlossen (5. September 2023).

Foto: Tolga Akmen (EPA, Keystone)

In regelrechtem Chaos hat in England diese Woche das neue Schuljahr begonnen. Just zu Schulbeginn hat die Regierung angeordnet, dass 147 Schulen wegen Einsturzgefahr unverzüglich ganz oder teilweise geschlossen werden müssen. In Spitälern sind zugleich die Klinikverwaltungen aufgefordert worden, sofortige Evakuierungspläne für Patienten und Personal zu erarbeiten. Einzelne Trakte sind bereits vorsichtshalber geschlossen worden.

Gerichtshöfe, Militärkasernen, Gefängnisse, Aufnahmelager für Asylbewerber und andere öffentliche Einrichtungen stehen gleichfalls auf der Liste einsturz-gefährdeter Gebäude und müssen schnellstens von Bauexperten überprüft werden. Mehrere Theater haben den Betrieb einstellen müssen. Selbst das britische Parlamentsgebäude, der Palast von Westminster, muss sich Tests unterziehen.

Grund für die Sorge, die im Laufe dieser Woche immer weiter um sich gegriffen hat, ist ein spezifischer Leichtbeton, der in der Zeit zwischen den 50er- und den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts vielerorts Verwendung fand, vor allem in Platten auf Flachdächern, aber auch in Schrägdächern und in Mauern. Das RAAC genannte Material, ein mit Aluminium gemischter Porenbeton, war seinerzeit billiger als Hartbeton und leichter zu verwenden beim Bau.

«Das Risiko ist seit Jahrzehnten bekannt»

Schon zu Beginn seiner Verwendung prophezeiten Ingenieure freilich, dass die «Lebenszeit» dieser Art von Leichtbeton nicht viel mehr als drei Jahrzehnte betragen werde. Und seit den 80er-Jahren gab es regelmässige Warnungen durch Sicherheitsexperten. Im Verlauf der 90er forderten Inspektoren umfassende Untersuchungen. «Das Risiko ist seit Jahrzehnten bekannt», meint heute der leitende Bauinspektor Geoff Wilkinson. «Man hätte ein permanentes Erneuerungsprogramm für diese Gebäude in den letzten 40 Jahren gebraucht.»

Den Alarm ausgelöst hatten mehrere Zwischenfälle in den letzten Jahren, bei denen ganz ohne Warnzeichen der Leichtbeton in einzelnen Gebäuden einbrach – glücklicherweise ohne dass jemand verletzt wurde. Unter anderem kollabierte im Juli 2018 die Decke des Lehrerzimmers einer Grundschule in Kent. Danach brach ein Ladendach wegen RAAC-Verschleiss teilweise ein, und im Londoner Stadtteil Harrow musste ein Gerichtsgebäude wegen akuter Einsturzgefahr geschlossen werden. Vorige Woche soll ein RAAC-verstärkter Balken in einer Schule plötzlich eingebrochen sein.

Lunchpaket statt Kantine

Mittlerweile haben Premierminister Rishi Sunak und Schatzkanzler Jeremy Hunt versichert, sie würden «alles unternehmen, was nötig ist», um die Sicherheit von Schulkindern und Lehrpersonen zu garantieren. Wo bereits Klassenzimmer oder Turnhallen geschlossen worden sind, und das buchstäblich über Nacht, haben sich erhebliche Schwierigkeiten ergeben.

Neuer Schulweg in London: Kinder der Corpus Christi Catholic School müssen in die St Martin’s in the Field Girls’ School ausweichen (5. September 2023).

Neuer Schulweg in London: Kinder der Corpus Christi Catholic School müssen in die St Martin’s in the Field Girls’ School ausweichen (5. September 2023).

Foto: Yui Mok (AP, Keystone)

Manche Schüler sind in Nachbarschulen (neueren Datums) umplatziert worden. Mobilkabinen für den Unterricht und mobile Toiletten sind versprochen, allerdings noch kaum irgendwo angeliefert worden. Zusätzlich sollen, solange das Wetter es erlaubt, auf Pausenplätzen Markisen erstellt werden. Vereinzelt wurde die Armee zur Unterstützung aufgeboten. Vielen Eltern ist ausserdem angeraten worden, ihren Kindern morgens ein Lunchpaket mitzugeben, da die Kantinen in den betroffenen (Ganztages-)Schulen fürs Erste nicht zugänglich sind.

Retourkutsche für Sunak

Fachleute befürchten freilich, dass sich diese Situation über Jahre hinziehen könnte. Harsche Kritik haben sich die seit 2010 regierenden Konservativen schon jetzt dafür zugezogen, dass das Kapitalbudget für Schulen in dieser Zeit scharf reduziert worden und ein ehrgeiziges Erneuerungsprogramm der Labour-Regierung von 2009 bereits im folgenden Jahr vom damals neu angetretenen Tory-Premier David Cameron gestrichen worden war.

Vor allem muss sich der jetzige konservative Regierungschef Rishi Sunak vorhalten lassen, dass er als Schatzkanzler in den Jahren 2020 und 2021 dem Bildungsministerium dringend erbetene Gelder für Schulrenovierungen und Schulneubauten verweigerte. Am Ende erhielten in jener Zeit gerade einmal 50 Schulen Geld aus der Staatskasse zum Ersetzen von Leichtbetongebäuden, während 300 Schulen Bedarf angemeldet hatten.

Sieben Kliniken müssten abgerissen werden

Ähnlich sieht es bei den Kliniken aus. Mindestens 24 enthalten offenbar RAAC-Beton, 7 davon müssten, auch nach Überzeugung der Regierung, ganz abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden.

Unter diesen Umständen habe sich die Sunak-Regierung eine «giftige Krise» eingehandelt, die ihr bei den fürs nächste Jahr erwarteten Unterhauswahlen noch sehr zu schaffen machen werde, meint dazu der prominente Tory-Abgeordnete Sir Craig Oliver. Die ganze Krise mit dem bröckelnden Beton sei für viele Briten nur wieder ein neuer Beweis für ein «kaputtes Grossbritannien» – und eine Bestätigung ihrer Befürchtung, «dass in unserem Land nichts mehr funktioniert».

Peter Nonnenmacher berichtet als Korrespondent aus London.Mehr Infos

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