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Bahn frei für das Velo

Arbeits-, Sport- und Freizeitgefährt. Das Velo wird seit seiner Erfindung vielseitig genutzt.

Arbeits-, Sport- und Freizeitgefährt. Das Velo wird seit seiner Erfindung vielseitig genutzt.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum

Radwege waren nicht immer selbstverständlich – 1946 wurde im Kanton Bern erstmals über ein kantonales Veloweggesetz abgestimmt.

Roman Bertschi / Schweizerisches Nationalmuseum

Im Jahr 2018 stimmte die Schweiz für das nationale Veloweggesetz. Mit diesem ist der Bund in der Lage, Grundsätze für Velowege festzulegen. Und er kann Kantone, Gemeinden und weitere Akteure bei deren (Koordinations)-Massnahmen nach Bedarf unterstützen. Wie der hohe Ja-Stimmen-Anteil beweist, ist der Veloweg heute fester Bestandteil der Schweizer Verkehrsinfrastruktur und für die meisten eine Selbstverständlichkeit – dem war nicht immer so.

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Ein Blick auf die Veloweg-Abstimmung von 1946 im Kanton Bern zeigt, dass die Bevölkerung Velowegen vor einigen Jahrzehnten viel skeptischer gegenüberstand. Die Abstimmung kann nicht eins zu eins mit dem aktuellen Veloweggesetz verglichen werden. Zu unterschiedlich sind die kantonale und nationale Bedeutung, der zeitliche Kontext und die Finanzierungsinstrumente.

Trotzdem ist die Vorlage von 1946 spannend. Vor allem, welche Überlegungen Volk und Behörden damals zur Bedeutung des Velos anstellten und dass gewisse Aspekte wie das Platzproblem auf den Strassen schon in den 1930er- und 1940er-Jahre eine Rolle spielten.

Nach dem Ersten Weltkrieg verdrängten Bahn, Busse, Motorräder, Autos und Velos zunehmend Fuhrwerke, Reiter und Leiterwagen aus dem Strassenbild. Zahlreiche Personen fuhren mit dem Fahrrad zur Arbeit. Die meisten Strassen waren staubig und noch nicht asphaltiert. Wenn es regnete, blieben die Velos im Schlamm stecken und mussten geschoben werden. Auch sonntags stiegen die Menschen auf ihr Velo und erholten sich in der freien Natur.

Wie ein Blick auf die untenstehenden Zahlen verrät, stieg die Anzahl von Velos und Autos stetig. Das Aufkommen von Autos – seit den 1920er-Jahren – war für Rad- wie Autofahrer mit Platzproblemen und erhöhten Unfallrisiken verbunden. Dieses Problem entspannte sich während des Zweiten Weltkrieges wegen chronischen Benzinmangels. Fahrradfahren war während des Zweiten Weltkrieges mit viel Platz möglich.

Sowohl die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg als auch die Kriegsjahre selbst waren für das Veloweggesetz relevant: Die Jahre von 1920 bis 1940 bestimmten die Überlegungen und Vorbereitungen zum Veloweggesetz. Die Einstellung des Automobilverkehrs im Krieg war für das Verschieben des Abstimmungstermins auf das Kriegsende 1946 mitentscheidend.

Zwischen 1925 und 1950 hat sich die Anzahl der Velos mehr als verdoppelt. Im Gegensatz dazu stieg die Anzahl der Autos – vor allem wegen des Zweiten Weltkriegs – langsamer an.

Zwischen 1925 und 1950 hat sich die Anzahl der Velos mehr als verdoppelt. Im Gegensatz dazu stieg die Anzahl der Autos – vor allem wegen des Zweiten Weltkriegs – langsamer an.Grafik: Schweizerisches Nationalmuseum, Quelle: Bundesamt für Statistik

Um die Gefahren für Mensch und Gefährt zu reduzieren, beschloss der Kanton Bern 1924 ein Strassenbauprogramm. Geplant war der Bau eines gut 720 Kilometer langen Hauptstrassennetzes. Dieses sah die «dringendsten Korrektionen, Verbreiterungen, Entwässerungen, Walzungen und Teerungen vor.» Alles ausser dem Bau von Radfahrstreifen.

Der zunehmende Verkehrsdruck führte zehn Jahre später dazu, dass sich die Baudirektion dennoch für den Bau von Radfahrwegen engagierte. Das Strassenbaugesetz von 1934 enthielt einen expliziten Artikel zum Radwegbau. Um die finanziellen Mittel zu beschaffen, sprachen sich die Behörden für die Besteuerung von Fahrrädern aus. Diese Überlegung stellte ein Novum dar, denn erstmals sollten entsprechende Mittel zweckgebunden eingesetzt werden.

Bei einem Vortrag der Baudirektion im Jahr 1938 thematisierte diese den Bedarf von Radstreifen, dies am Beispiel der stark befahrenen Strecke Bern-Thun: «Bei dieser Belastung, die für Automobilisten, Radfahrer und Fussgänger in gleichem Masse unangemessen ist, sind Fahrradwege eine Notwendigkeit. Wenn aber eine Entlastung der Strassen durch die Erstellung der Fahrradwege eintreten soll, sind sie möglichst von den Verkehrsstrassen getrennt zu erstellen.»

Im selben Jahr beauftragte die Polizeidirektion die Baudirektion um Fallstudien, Kostenberechnungen und Mittel für geplante und im Bau befindliche Baustücke. Anschliessend arbeitete die Polizeidirektion einen ersten Gesetzesentwurf aus. Im Jahr 1938 schätzten die Zuständigen die Einnahmen der Steuer auf rund 530'000 Franken.

1939 trafen sich die Zuständigen der Polizei-, Justiz- und der Baudirektion erneut und koordinierten ihr Vorgehen. Die Ämter trieben die Vorlage voran, der Grosse Rat sollte sie noch im Herbst des gleichen Jahres beraten. Zwei Jahre später, 1941, stand nach der zweiten Lesung im Grossen Rat der Abstimmungstext fest.

Zweiter Weltkrieg verzögert Abstimmung

Mit den einsetzenden Kriegshandlungen veränderten sich die Rahmenbedingungen für die Abstimmung. Benzin und Kautschuk für Reifen wurde knapp, womit viel weniger motorisierte Fahrzeuge auf den Strassen fuhren. Die Berner Polizeidirektion schätze die Chancen der Vorlage nun schlechter ein als in Friedenszeiten, denn der Druck auf den Verkehrsflächen nahm deutlich ab, was die Notwendigkeit von Radstreifen für die Bevölkerung weniger sichtbar machte.

Verbände wie der Automobilclub der Schweiz (ACS) plädierten trotzdem für eine rasche Umsetzung der Abstimmung. Der Verband rechnete bei Kriegsende mit einem Verkehrsaufkommen wie 1939. Nach der Vorstellung des Verbandes sollten bei Kriegsende diverse Radfahrwege bereits realisiert sein und so die neuerliche Verkehrszunahme besser kanalisiert werden.

Doch die Polizeidirektion strebte eine Abstimmung nach Kriegsende an. Eine Abstimmung während des Krieges käme einer Abstimmung über eine «Arbeitsbeschaffungsvorlage» gleich. Diese Einschätzung teilten auch die Befürworter im Grossrat. Folglich warteten die Behörden ab, bis eine Annahme der Abstimmung aufgrund eines höheren Verkehrsaufkommens nach Kriegsende wahrscheinlicher wurde.

1945 rückte der Abstimmungskampf näher. Ein breit abgestütztes Komitee aus Verkehrsverbänden, Behörden und Parteien legte sich für die Vorlage ins Zeug. Zu den unterstützenden Verbänden gehörte unter anderem die «Kantonale Berner Verkehrsliga» sowie der «Schweizerische Radfahrer Bund» und der «Arbeiter Touring Bund». Politisch wurde die Vorlage ausser von der rechten Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei von allen Parteien unterstützt.

Die Polizeidirektion wies in einem öffentlichen Artikel nochmals auf die Notwendigkeit einer Annahme hin; dies gerade im Hinblick auf das wieder erstarkende Verkehrsaufkommen. Und auch die 330'000 Radfahrer genossen während des Krieges viele Freiheiten. Mit Radfahrwegen sollte mehr Sicherheit für alle gewonnen werden. Eine verbesserte Signalisation sollte ebenfalls zu diesem Ziel beitragen.

In eigens veröffentlichen Artikeln des Pro-Komitees zeigten sich deren Autoren besorgt über die chaotischen Zustände auf den Strassen. Die schnelleren und schwereren Automobile würden die Radfahrer entrechten und ihnen die Bewegungsfreiheit auf den Strassen erschweren.

Das Argument der Gefährdung von Radfahrern kam nicht von ungefähr: Jahr für Jahr verunglückten auf den Strassen rund 30'000 Radfahrer und Radfahrerinnen.

Gefährliche Tramschienen: Radfahrer in Genf um 1940.

Gefährliche Tramschienen: Radfahrer in Genf um 1940. Bild: Keystone

Am zehnten Februar 1946 wurde endlich abgestimmt. Doch die Berner und Bernerinnen schickten die Vorlage mit rund 54 Prozent Nein-Stimmen bachab. Ausser den Gemeinden Bern, Burgdorf, Fraubrunnen, Interlaken, Oberhasli und Wangen stimmten sämtliche Wahlkreise mit Nein. Auf dem Land kam die Vorlage schlecht an. Grossräte und die Wählerschaft sahen es als unwahrscheinlich an, dass Bauentscheide zugunsten ihrer Wahlkreise ausfielen. Denn Landregionen hatten deutlich weniger Bevölkerung und Industrie. Am höchsten war das Nein in den französischsprachigen Wahlkreisen: Delémont und Franches-Montagne sagten mit rund 78, respektive 93 Prozent Nein. Hier dürfte sich der Röschti-Graben bemerkbar gemacht haben.

Neben den vielen im Abstimmungskampf vorgebrachten Argumenten gegen die Vorlage gaben die hohen vorgesehenen Kosten für Velofahrende wohl den Ausschlag für das Abstimmungs-Nein. Betrachtet man den Siegeszug des Autos in den folgenden Jahrzehnten, könnte das Abstimmungsresultat als eine Art Omen für die zukünftige Entwicklung der Radwege gesehen werden.

Kann es sein, dass die Vorlage ihrer Zeit voraus war? Ein Blick auf das heutige Velowegnetz im Kanton Bern lässt diesen Schluss jedenfalls zu: Auf rund 1703 Kilometern radeln Jung und Alt zum Businessmeeting oder zum Sonntagsbrunch. Und dank des neuen Veloweggesetzes dürfte das Streckennetz in Zukunft noch länger und besser werden.

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Video: watson/Aya Baalbaki, Amanda Schneider